Der Karfreitag
ist vielleicht der zentralste und symbolträchtigste Tag in der
lateinamerikanischen Karwoche, so auch in Chwikaqá. Jugendgruppen hatten bis
tief in die Nacht hinein, ausgestattet mit Taschenlampen, bunte und
künstlerisch verzierte Blumenteppiche in den Straßen gelegt. Das ganze Dorf ist
bereits auf den Beinen als wir die Plaza vor der Kirche erreichen. Dieser
Freitag sollte der programmreichste und anstrengendste Tag der ganzen Woche
werden. Wie in hier so ist in vielen abgelegenen Berggemeinden die Volksfrömmigkeit
sehr von Traditionen geprägt, Traditionen die in diesem Fall häufig noch aus
der spanischen Kolonialgeschichte stammen und einen hie und da andalusischen
Anstrich haben. So komme ich mir bei der ersten Karfreitagsprozession an diesem
Vormittag vor wie ins malerische Sevilla versetzt. Eine paar Schritte gehen,
singen, erste Station, niederknien, ein Vaterunser und ein Ave Maria,
aufstehen, zur nächsten Station. Nach vierzehn Stationen sind die Knie wund,
die Kehle trocken und Buße für die nächsten 500 Jahre getan. Doch damit nicht
genug, am frühen Nachmittag führte die Jugendgruppe den zweiten Teil ihrer
Passionsgeschichte vor. Mit knallenden Peitschenhieben wird Pedro, der Jesus-Darsteller,
durch die Dorfstraßen getrieben bis auf eine Anhöhe über einem Abgrund. Zwei
weitere Kreuze sind bereits vorbereitet. Unter den besorgten Augen der
Bevölkerung wird Jesus schreiend ans Kreuz genagelt und aufgerichtet.
Erinnerungen werden wach, an das Osterfest 2006 als ich in Mollendo, im Süden
Perus selbst an dieser Stelle hing, eine unvergessliche Erfahrung. Nach der
anschließenden Karfreitagsliturgie war noch lange nicht Schluss. Die
„Prozession zum Hl. Grab“ stand auf dem Programm. Wieder ging es um die
Häuserblocks, diesmal jedoch mit einer eingesargten Christusfigur und der Virgen Dolorosa, der Schmerzensmutter
voraus. Zum Ende der Prozession ist es bereits fast dunkel. Die Erschöpfung
steht allen ins Gesicht geschrieben, aber die Gesichter schauen auch zufrieden
drein. So macht sich jeder wieder auf den Weg nach Hause mit seiner Familie.
An diesem Abend
erzählt mir Juan von den schweren Zeiten die die Gemeinde während des
jahrzehntelangen Bürgerkriegs, der in Guatemala erst 1996 beendet wurde, erlebt
hat. Er erzählt von den Jagdbombern die die Regierung über das Hügelland des
Quiché schickte und die überall dort Bomben abwarfen wo sie Verstecke der
Rebellen vermuteten. Guerillakommandos und Militärs versetzten die Bevölkerung
wechselseitig in Angst und Schrecken. Gemeindemitglieder verschwanden von einem
Tag auf den anderen, andere wurden verhaftet und gefoltert. Es war ein Krieg
der wie in El Salvador ganze Generationen geprägt und die Gewalt und das Leid
tief ins Bewusstsein der Menschen eingebrannt hatte. Wie bereits berichtet hat
auch Guatemala bis heute ein großes Problem mit der Alltäglichkeit und der
Normalisierung der Gewalt. Die Maras, organisierte Jugendbanden drängen immer
mehr auch nach Guatemala Stadt vor und verdienen sich den Lebensunterhalt mit
Erpressungen und Überfällen. Die Drogenkriminalität ist das zweite große Problem.
Die guatemaltekische Drogenmafia ist ein wichtiges Glied in der Schmugglerkette
zwischen Kolumbien und Mexiko, bevor die Ware in die USA und nach Europa „exportiert“
wird, und geht bei ihren Aktionen regelmäßig über Leichen. Auch das finstere
Kapitel der staatlichen Repression im Bürgerkrieg ist noch nicht geschlossen.
Erst vergangene Woche wurde der Prozess gegen einen guatemaltekischen
Exdiktator, in dessen Verurteilung die ganze Hoffnung von
Menschenrechtsverteidigern und Bevölkerung lag, für ungültig erklärt. Auch
dieses Land hat noch einen langen Weg zu gehen, hin zu einem anhaltenden,
echten Frieden.
Am
Samstagvormittag sind wir eingeladen bei einer Untergruppe der Gemeinde, die
sich „pequeñas comunidades“ (kleine Gemeinschaften) nennen. Junge und alte
treffen sich in diesem Kreis einmal im Monat um gemeinsam etwas für die ärmsten
und benachteiligten Dorfbewohner zu tun. Wir reihen uns ein in die bunte Runde.
Auf dem Boden ist ein kunstvoll verzierter Maya-Altar aufgebaut. Marcos, ein
Bruder von Katti und Pedro, bei deren Familie wir zwei Tage zuvor zu Mittag
gegessen hatten, gibt uns eine Einführung. Er erklärt uns die Symbolik des
Altars, die Blumen die das Wachsen und Gedeihen im Leben und in Gemeinschaft
bedeuten und die Kerzen. „Für uns in der Maya-Kultur sind unsere Vorfahren
nicht im Himmel oder irgendwo an einem anderen Ort“, erklärt er. „Sie sind hier
bei uns und mit uns, überall. Wir sprechen zu ihnen und sie zu uns.“ Jeder Tag
habe einen bestimmten Schutzgeist, „Nahual“ genannt, fährt er fort. An diesem
Tag rufen wir gemeinsam den Nahual Kawok,
den Geist des Sonnenstrahls an. Marcos erzählt uns auch von dem Gott der Maya,
der ja auch der Gott der Christen sei, denn schließlich gebe es ja nur einen.
Er lächelt und bemerkt, dass der Maya-Gott übrigens auch so eine Art
Dreifaltigkeit hat. Er tritt in drei verschiedenen Personen auf, dem Quetzal, Guatemalas Wappenvogel, der
Schlange, mit einer positiven Bedeutung und der Luft, dem Hauch des Lebens.
Nichts scheint sich hier zu widersprechen, alles zu passen. Nach einem
gemeinsamen Gebet auf Quiché teilen wir uns in vier Gruppen auf, um Zeit zu
sparen, da noch einige Aktivitäten an diesem Tag anstehen. Ich gehe mit Pedro
und drei anderen Jungs. Da unser Ziel wohl recht weit entfernt liegt holt Pedro
seinen alten Toyota Pickup und wir steigen bepackt mit Lebensmitteln, wie Reis,
Bohnen, Zucker und Salz auf die Ladefläche. Etwa zehn Minuten dauert die Fahrt
über die von Häusern gesäumte, kurvige Piste durch das Hügelland bis wir an
einem kleinen Kiefernwäldchen angelangt sind. „Hier hört die Straße auf“, ruft
Pedro und wir steigen ab. Ein kleiner Pfad führt uns durch den Wald vorbei an
kleinen Maisäckern, bis wir schließlich nach weiteren fünfzehn Minuten eine
bescheidene Hütte erreichen. Hier wohne Don Manuel, erklärt man mir. Der Mann
gut in den Vierzigern ist seit Monaten schwer krank und ans Bett gefesselt.
Seine Frau ist seit Jahren verstorben, seitdem kümmerte er sich alleine um
seine drei minderjährigen Töchter. Jetzt kümmern sich seine Töchter um ihn,
eine Tante die in der Nachbarschaft wohnt unterstützt sie dabei. Wir klopfen
an. Ein etwa zwölfjähriges Mädchen öffnet uns und bittet uns herein. Im Innenhof ist ein weiteres Mädchen mit dem Wäschewaschen
beschäftigt. Zwei Hunde tollen zwischen den Töpfen und Kübeln herum. Das
Mädchen das uns die Türe geöffnet hatte bedeutet uns ins Haus zu kommen. Wir
treten in den einzigen dunklen Raum, der nur schwach von einer Feuerstelle
erleuchtet wird. Als sich meine Augen an das dämmerige Licht gewöhnt hatten
entdecke ich in der Mitte des Raumes, unmittelbar neben der Feuerstelle ein
Bündel. Don Manuel liegt eingewickelt in mehrere Decken, schwer atmend auf dem
Fußboden. Er nimmt uns zunächst kaum wahr. Pedro und seine Freunde sind bereits
öfter hier gewesen und kennen ihn. Pedro wendet sich mit lauter Stimme an den
Mann und stellt uns vor. Er scheint kaum zu hören. Das Mädchen nimmt dankbar
die Lebensmittelspende entgegen und die Jungs sprechen mit ihr auf Quiché. Die
Wände sind geschwärzt vom Ruß der Feuerstelle. Der Rauch zieht durch eine
Öffnung in der Decke ab. Da Don Manuel offiziell der freikirchlich
evangelischen Gemeinde angehört und hier im Dorf unterschiedliche religiöse
Anschauungen respektiert werden, fragt Pedro ob er es wünscht, dass wir gemeinsam
ein Gebet sprechen. Mit einem kaum merklichen Nicken stimmt er zu. Wir stellen
uns im Kreis auf und bitten auf Quiché für seine Gesundheit, für seine Töchter
und, dass ihnen nichts fehlen möge. In ein abschließendes Vaterunser mischt
sich das beschwörende Gemurmel auf Quiché der übrigen Anwesenden, eine
ergreifende Stimmung. Bevor wir uns verabschieden beuge ich mich zu Don Manuel
hinunter, knie mich an seine Seite und reiche ihm die Hand. Er wendet mir den
Kopf zu und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Hatte ich den Blick
eines alten, lebensmüden Mannes erwartet, blicke ich in Augen die vor Leben
glühen, jung, voller Schmerzen, Angst und zugleich hoffnungsvoller Dankbarkeit.
Eine Begegnung von unbeschreiblicher Tiefe. Das Aufeinandertreffen zweier Leben
wie sie unterschiedlicher kaum sein können an diesem Ort, und die sich doch in
der Stille des Augenblicks ganz zu verstehen scheinen.
Auf dem Rückweg
erzählt mir Pedro, dass im Dezember zum Ende der Erntezeit alle im Dorf bereits
den Mais eingebracht hatten, auf dem Acker von Don Manuel die Kolben noch
unangetastet in der Sonne trockneten. Er hatte nicht die Kraft das Haus zu
verlassen. Eine Gruppe von jungen Männern um Pedro und Marcos ernteten die milpa für ihn ab und brachten ihm das
lebensnotwendige Korn auf den Hof. Ohne solidarische Zusammenarbeit ist ein Überleben
hier kaum möglich. Keiner weiß, wann er vielleicht einmal in einer Situation
ist, in der er auf die Hilfe der Gemeindemitglieder angewiesen ist. Ich frage,
ob man Don Manuel denn nie zu einem Arzt gebracht hätte. Er wäre vor Monaten
wohl einmal beim Arzt gewesen, aber die Familie habe kein Geld um ihn in ein
Krankenhaus zu bringen. Man könne lediglich ab und zu neue Medikamente kaufen.
Am Nachmittag,
dem letzten hier in Chwikaqá, zieht es mich wieder auf die Plaza. Ich setze
mich auf meine Stufe und bekomme gleich darauf Gesellschaft von Maria, einem
zwölfjährigen Mädchen, das mir die Tage immer wieder gefolgt war und sich stets
halb schüchtern, halb aufgeweckt mit mir unterhält. Wenig später gesellt sich
ein älterer Mann zu uns. Er stellt sich vor als Don Andrés, 81 Jahre alt. Er
hat sein ganzes Leben in Chwikaqá gelebt, hier geheiratet, 9 Kinder groß
gezogen. Nun bleibe ihm nicht mehr lange, aber das sei in Ordnung, fügt er lächelnd
hinzu. Er fragt mich wo ich her komme, wo Deutschland liege, wie denn die fünf
Kontinente hießen, ob El Salvador auch in Mittelamerika sei. Erhört mir aufmerksam
zu und erzählt mir dann von früher, als hier noch keine Autos fuhren, als vor
70 Jahren Missionare von außerhalb kamen und ihnen Religionsunterricht und anderes
Wissen gaben. Er hatte sein Leben lang auf dem Feld gearbeitet, nichts fehlte
ihm.
Als die Sonne
den Horizont über den Hügeln berührte brach die Menschenmenge, die sich wieder
nach und nach auf der Plaza angesammelt hatte, langsam auf. Es ging auf die
freie Fläche, wo man tags zuvor die Kreuzigung mitverfolgt hatte und wo an
diesem Abend das Osterfeuer entzündet werden sollte. Hoch schlugen bereits die
Flammen die sich gierig in die trockenen Scheite bissen und im Christentum das
neue Leben symbolisieren. Begleitet von einer Folklore-Musikgruppe entzündet
Agustín die Osterkerze und gibt das Licht an die Gemeindemitglieder weiter. Von
Kerze zu Kerze breitet sich das Osterlicht in der Dunkelheit bald aus wie ein
leuchtender Teppich, der sich freudig singend Richtung Ortszentrum in Bewegung
setzt. Die Osternachtfeier wird wieder komplett auf Quiché gehalten. Es ist einer
der Höhepunkte der Woche. Die Kerzen in der dunklen Kirche, die geheimnisvoll
schimmernden Farben, die von einem harten Leben gezeichneten und schon
vertrauteren Gesichter, die melodischen Gesänge, ich bekomme Gänsehaut.
Das Osterfest
kann nicht zu Ende gehen ohne eine letzte Prozession. Früh am Sonntagmorgen ist
der Dorfplatz bereits wieder gefüllt mit Menschen aus den verschiedenen
umliegenden Ortschaften. Diesmal streng
getrennt nach Geschlechtern. Langsam entfernt sich die Gruppe der Frauen in die
Dorfstraße hinab, voraus hoch über den Köpfen die Virgen Dolorosa, die Schmerzensmutter, an diesem Tag in einem
weißen Freudenkleid. Die Männer tragen die aufrechte Figur des auferstandenen
Christus bedächtig in die entgegengesetzte Richtung. Die Gesänge der beiden
Gruppen verlieren sich nach und nach in der morgendlichen Brise. Ich folge den
Männern durch die Gassen und um hundert Wegbiegungen. Irgendwann kommen wir
zurück auf die Plaza und fast wie abgesprochen erreicht die Gruppe der Frauen
den Platz im selben Moment. In der Mitte des Platzes treten sich Maria und
Jesus gegenüber, die Marienstatue verneigt sich vor ihrem auferstandenen Sohn,
Symbolik pur, die Menschen sind ergriffen und auch mir stockt der Atem. Ein
schöner Brauch, der einem Ostern in seinem Ursprung sehr nahe bringt. Nach dem feierlichen
Ostergottesdienst versammelt sich die gesamte Gemeinde auf der Plaza in einem
großen Kreis. Jede Familie breitet Teppiche mit Gefäßen, Tüten und Körben vor
sich aus. Es ist hier Brauch am Ostermorgen das Saatgut für die unmittelbar
bevorstehende Aussaat zu segnen. Jeder hatte einen Teil der letzten Ernte
zurückbehalten um die gelben und schwarzen Maiskörner, die Bohnen in diesem
Jahr wieder auszusäen und für eine gute Ernte, von der hier oben immer noch das
Überleben abhängt, zu beten.
Nach der
Zeremonie heißt es langsam Abschied nehmen. Abschied von Chwikaqá, von Menschen
die uns so herzlich und wie selbstverständlich in ihrer Gemeinschaft
aufgenommen hatten, Menschen die ein so anderes, so viel einfacheres und auf
andere Art so viel schwereres Leben führen und von deren Gesicht niemals dieses
Lächeln zu verschwinden scheint. Abschied von der kleinen Maria, die uns
traurig hinterherwinkt, von Doña Juana, einer außerordentlichen Frau von 78
Jahren, die uns in diesen Tagen bekocht hatte, von Don Andrés, von Pedro.
Abschied von Juan, seiner Frau Sandra, den Kindern Andrés, Gaspar, Isabel,
Antonio, David, Jonas, von Candelaria, an deren Familienleben ich in diesen
Tagen teilhaben durfte. Abschied von dieser anderen Welt, die unverwüstlich
alle Stürme der Zeit zu überstehen scheint und in der doch beständig der Wind
des Wandels weht. Eine Welt und eine Kultur die vor großen Herausforderungen
steht in dieser Generation und von der so vieles zu lernen ist. Abschied vom
Quiché, diesem wunderschönen und ewigen Hügelland der Maya.
Ächzend schiebt
sich der VW Polo durch eine Talsenke nach der anderen. Die nackte Staubpiste kleidet
sich bald wieder mit Asphalt, die Luft wird dicker und feuchter, Busse jagen
einander hupend hinterher. Stunden später sehne ich mich nur noch nach einer kalten
Dusche. Ich weiß ich bin zurück in meinem kleinen Leben, das mit dieser Woche
ein kleines Stückchen größer geworden ist, ein Straßenzug von der UCA entfernt
in San Salvador.