Samstag, 19. Juli 2014

Befreiungstheologie heute

Vor wenigen Wochen erklärte der Vorsitzende der lateinamerikanischen Bischofskonferenz (CELAM) Carlos Aguiar Retes auf einer Pressekonferenz in Rom, die Befreiungstheologie sei, „wie ihre Gründerväter ins Greisenalter gekommen, wenn nicht gar schon tot“. An der Universidad Centroaméricana ‚José Simeón Cañas‘ (UCA) in San Salvador schmunzelt man über diese Worte nur. „Es ist wahr, dass wir alt sind. Schaut uns an“, kommentiert Jon Sobrino in seiner Vorlesung lachend die Worte des mexikanischen Bischofs. „Aber der Papst und die meisten Bischöfe sind doch auch alt und keiner beschwert sich darüber.“

Seit drei Semestern studiere ich nun an der UCA einen Master in „lateinamerikanischer Theologie“. Im Vorfeld in Deutschland waren nicht wenige skeptisch angesichts meiner Pläne: „Wird dir das Studium danach in Deutschland überhaupt anerkannt?“ „Ach, die Befreiungstheologie ist doch Vergangenheit“, oder „die UCA ist auch nicht mehr was sie mal war“. Ich wollte es wissen. Ich wollte mehr erfahren über diese beeindruckende Weise den Glauben zu leben, über diese so andere und existentielle Art Kirche zu verstehen von der ich 2005 während meines Freiwilligendienstes in Peru angesteckt worden war.

Der Master könnte schlicht auch „Befreiungstheologie“ heißen, wäre so aber vermutlich noch stärker den niemals verstummenden Polemiken aus Rom ausgesetzt und letztlich bringt es der Zusatz „lateinamerikanisch“ doch ganz gut auf den Punkt. Neben den Koryphäen der UCA, den Jesuiten Jon Sobrino und Juan Hernández Pico, beide einst enge Vertraute und Berater des 1980 ermordeten hiesigen Erzbischofs Oscar Romero, kommen die Dozentinnen und Dozenten im Master aus allen Ecken des Kontinents und sind allesamt tief verwurzelt in der Tradition der Befreiungstheologie.

Der Jesuit und Befreiungstheologe Jon Sobrino während einer Vorlesung im
Master in Lateinamerikanischer Theologie an der UCA
Juan Hernández Pico "Piquito", ebenfalls Jesuit, Soziologe und Befreiungstheologe
in seiner Vorlesung über den sozio-politischen Kontext Lateinamerikas 

Die großen Namen der Befreiungstheologie, Ignacio Ellacuría, Jon Sobrino, Leonardo Boff, Gustavo Gutiérrez, Juan Luis Segundo, darin hat der CELAM Präsident recht, sind tatsächlich alles alte Männer oder längst verstorben. Über die Befreiungstheologie als solche sagt dies jedoch recht wenig aus. Im Gegenteil, die Befreiungstheologie stützt sich weniger als die „klassische“ Theologie, ich würde gar sagen weniger als jede andere Geisteswissenschaft auf graue Eminenzen und unantastbare Autoritäten. 

Im Zentrum steht der Glaube des Volkes, genauer die „Armen mit Geist“ (Mt 5,3) die Jesus in der Bergpredigt selig preist. Das Leben, die Menschen und ihre Umwelt sind oberste Priorität dieser Theologie. Die Bibel kommt an zweiter Stelle. Die kirchliche Tradition danach. Den Leidenden, den Ausgeschlossenen, den Entrechteten, den Unsichtbaren zuzuhören und gemeinsam mit ihnen die frohe Botschaft des Evangeliums in ihrer meist nicht sehr frohen Lebenswelt zu verwirklichen ist die verantwortungsvolle Aufgabe der Theologin, des Theologen und letztlich aller Christen. 

Studentinnen und Studenten der UCA fordern auf einer Kundgebung in San Salvador gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationendie Einhatung und den Schutz der Menschenrechte im Oktober 2013

Seit ihrer Geburtsstunde in der Mitte des 20. Jahrhunderts haben Vertreterinnen und Vertreter der Befreiungstheologie auf dem ganzen Kontinent radikal Partei für die Armen ergriffen und nicht selten auch deren politische Forderungen nach Gerechtigkeit und Freiheit unterstützt. Die westliche Welt und die Amtskirche rückten die Befreiungstheologie daraufhin schnell in die Marxismus-Ecke und schienen vergessen zu haben warum Jesus von Nazareth ans Kreuz geschlagen worden war. 

Die Befreiungstheologie ist, entgegen der verbreiteten Meinung, keine theologische Strömung unter anderen, keine Modeerscheinung, keine Fachrichtung. Befreiungstheologie ist ein Versuch die christliche Botschaft des Evangeliums radikal zu Ende zu denken, eine authentische Umsetzung der Reformen des 2. Vatikanischen Konzils in Lateinamerika. Die Befreiungstheologie wird in der katholischen Kirche wohl niemals mehrheitsfähig sein, weil sie wie die Urkirche vor 2000 Jahren die vorherrschende Gesellschaftsordnung anklagt und Gerechtigkeit fordert. Das ist unbequem und hat Lateinamerika zu einem Kontinent der Märtyrer gemacht.

Gewiss, die Verhältnisse haben sich geändert. Die großen Bürgerkriege und Revolutionen der 1970er und 80er Jahre sind vorbei und die alten Klassiker der Befreiungstheologie lassen sich nicht ohne weiteres ins Heute übertragen. Jon Sobrino und „Padre Piquito“, wie Juan Hernández Pico hier liebevoll genannt wird, sind sich dessen bewusst, ist es doch eine der Grunddimensionen der Befreiungstheologie. Sie ist keine Lehre für die Ewigkeit, keine absolute Wahrheit. Der brasialianische Bischof Pedro Casaldáliga sagte einmal: „Es gibt nur zwei absolute Dinge auf der Welt: Gott und der Hunger.“ Befreiungstheologie ist Christentum auf dem Weg, unvollendet, fehlerhaft, dienend, von der Hoffnung getrieben.

Was bleibt ist die Methode. Das Prinzip „Sehen – Urteilen – Handeln“, die kritische Analyse der sozialen Verhältnisse, das Konzept der strukturellen Sünde, die entschiedene Option für die Armen und die fundamentale Frage: Was sagt uns die frohe Botschaft des Evangeliums hier und heute? Auch wenn sich die Zeiten geändert haben, die Welt ist kaum friedlicher und gerechter geworden. Tausende Salvadorianerinnen arbeiten tagtäglich unter unmenschlichen Bedingungen in den „Maquilas“ der Textilindustrie. Landraub sowie Verschmutzung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch multinationale Großkonzerne sind ein Fluch für unzählige Dorfgemeinschaften. Die Kriminalitätsrate erreicht derzeit einen neuen Gipfel in El Salvador und der Waffenstillstand der „Maras“ steht vor dem Aus. Jährlich machen sich eine halbe Million Mittelamerikaner auf den gefährlichen Weg in den Norden, auf der Suche nach einem Leben in Würde.

Die Menschen geben jedoch nicht auf. Der Glaube, die Gemeinschaft, die Hoffnung haben nach wie vor eine ungebrochene Kraft. Menschenmassen ziehen jedes Jahr am 24. März durch die Straßen San Salvadors und lassen ihren Märtyrer Oscar Romero tausendfach auferstehen. Was ich in meinem Masterstudium an der UCA gelernt habe, ist, dass Christsein verantwortlich macht. Gewiss, wir werden kaum dem Elend der Menschheit ein Ende setzen, aber wir können dazu beitragen, diese Welt, unser Umfeld ein klein wenig menschlicher zu machen. 

Darum haben wir uns an der UCA mit einigen Mitstudentinnen und Mitstudenten aus El Salvador, Mexiko, Costa Rica, Argentinien, USA, Deutschland und Spanien zusammengeschlossen und das „Colectivo Raíces“ (raíz = Wurzel) gegründet. Jede und jeder von uns ist neben dem Studium in irgendeiner Weise in Basisorganisationen engagiert. Ziel der Gruppe ist es, Befreiungstheologie heute zu machen, aktuelle Themen aufzugreifen, eigene theologische Artikel zu veröffentlichen und einen kritischen theologischen Diskurs anzustoßen. 

Dieser ständige intensive Austausch untereinander und mit den verschiedenen Lebensrealitäten Lateinamerikas ist sehr bereichernd und lässt mich spüren, dass die Befreiungstheologie weder alt noch tot ist. Sie wird immer existieren. Nicht auf heiligen Stühlen, nicht in Kathedralen, aber im „Barrio“, auf den Maisfeldern, in den Fabriken, auf dem Weg nach Norden, in Lumpen und im Gefängnis, dort wo Jesus von Nazareth jeden Tag aufs Neue gekreuzigt wird und jeden Tag aufs Neue aufersteht.

Die Master-Gruppe mit Padre Piquito

Gemeinsame Feier zum Semesterabschluss

Theologie im Hier und Heute: Das 'Colectivo Raíces' im Rosengarten der UCA


Links (auf spanisch):

Blog des Colectivo Raíces: http://colectivoraices.wordpress.com/


Vorstellung des Masterstudiums an der UCA: http://www.youtube.com/watch?v=MCk6SwzpIx8

Die Zukunft beginnt im Heute

Still war es hier in der letzten Zeit. Der Grund dafür ist, dass es hier in El Salvador und in meinem Leben in den letzten Monaten alles andere als still war. Viele Nachrichten erreichten mich, viele Nachfragen, wann denn endlich wieder was im Blog erscheine. Berechtigt!

Mir geht es weiterhin sehr gut hier und das Leben hat mich, während seit Anfang des Jahres über tausend Salvadorianerinnen und Salvadorianer das ihre verloren haben in einem Krieg der ungleicher kaum sein könnte und dessen Ende nicht in Sicht scheint. Das alles geht nicht spurlos an mir vorbei. In den letzten Monaten war ich näher an den Menschen, erlebe ihre Verzweiflung und ihre Hoffnung. Die Verzweiflung sieht man hier täglich in den Nachrichten. Von der Hoffnung will ich hier im Blog berichten.

Ich werde mich in der nächsten Zeit wieder häufiger hinsetzten und schreiben. Das bin ich den Menschen schuldig. Den Anfang macht ein Artikel von mir, der diesen Monat in der Badischen Zeitung erschien.

Danke für eure Nachfragen, euren Ansporn, eure Zweifel, eure Kritik und eure lieben Worte. Ich freue mich immer über Nachrichten und versuche zeitnah zu antworten. Gerne könnt ihr auch die Kommentarfunktion im Blog nutzen, jeweils unter den Beiträgen.

In diesem Sinne, auf das Leben und auf die Hoffnung!

Herzliche Grüße aus San Salvador in die Welt,

euer Benjamin


ETTENHEIM/EL SALVADOR (BZ). El Salvador ist das kleinste Land Mittelamerikas. Fast unscheinbar zwängt es sich zwischen seine größeren Geschwister Guatemala, Honduras und Nicaragua. Seine Geschichte steht diesen jedoch in nichts nach. Es ist die tragische Geschichte eines Volkes das ums Überleben kämpft. Die fünfhundertjährige Herrschaft der Großgrundbesitzer mündete Ende der 1970er Jahre in einen zwölfjährigen, blutigen Bürgerkrieg dessen Wunden bis heute nicht verheilt sind. Es hat heute gar den Anschein, dass der Bürgerkrieg niemals wirklich geendet hat. Es sind Jugendbanden, Drogenkartelle und rechtsextreme Gruppen, die das Land immer wieder in Angst und Schrecken versetzen. El Salvador hat eine der höchsten Mordraten weltweit. Die Lebensbedingungen in den zahlreichen Armenvierteln sind unmenschlich. Auch wenn die linke Regierung in den vergangenen Jahren viele Reformen vorantreiben konnte, bleibt noch viel zu tun in dem hochverschuldeten Land. 
Seit gut einem Jahr lebe ich nun in El Salvador und schließe hier an der Jesuitenuniversität UCA mein Theologiestudium ab. Auf den Spuren von Oscar Romero, dem 1980 ermordeten Erzbischof San Salvadors und der verschiedenen Befreiungsbewegungen tauche ich immer tiefer ein in diese so andere Realität. Trotz aller Widersprüchlichkeiten und traurigen Nachrichten sprüht El Salvador vor Leben. Zwei Drittel der Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre. In ihnen ruht die Hoffnung des Landes auf eine rosigere Zukunft, eine Zukunft die im Heute beginnt. 
 

Sozialkundeunterricht im Grünen

Bildung ist einer der Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Da der Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung in El Salvador nach wie vor sehr beschränkt ist, gibt es eine Vielzahl von nationalen sowie internationalen Initiativen, die besonders Jugendlichen aus armen Verhältnissen zu Gute kommen.

In den vergangenen Monaten hatte ich die Gelegenheit zwei solcher Projekte näher kennenzulernen. Bei dem einen handelt es sich um das Stipendienprogramm der UCA, das es jungen Erwachsenen aus benachteiligten Familien ermöglicht ein Studium an einer der besten Universitäten des Landes zu absolvieren. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten werden während der gesamten Studienzeit begleitet und erhalten zahlreiche Möglichkeiten Praktika zu leisten und einen Weg ins Berufsleben zu finden, um so den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen.

Mit Akademikern alleine kann allerdings keine Gesellschaft funktionieren. Jedes Land braucht Arbeiter, Bauern, Handwerker und Techniker, die gut ausgebildet und unter würdigen Bedingungen die Lebensgrundlage aller produzieren. Sie sind das Fundament einer jeden Gesellschaft. Vor wenigen Tagen startete das Projekt ‚Escuela Campesina‘ (Campesino/Bauern Schule) einer salvadorianischen NGO. Ziel ist es in vier Monaten einer Gruppe von jungen und motivierten Männern und Frauen die Grundlagen in ökologischer Landwirtschaft zu vermitteln. Dies soll ihnen ermöglichen nachhaltig gesunde Lebensmittel zu produzieren und zu vermarkten und so neben den an Einfluss gewinnenden Großkonzernen der Lebensmittelindustrie überleben zu können. An den Nachmittagen erhalten die Jugendlichen zudem Unterricht in verschiedenen allgemeinbildenden Fächern, wie Geschichte, Musik und Sozialkunde, letzteres unter meiner Anleitung.

Ich selbst durfte die Jugendlichen aus beiden Projekten kennenlernen und bin begeistert von ihrem Antrieb, ihrer Kreativität und ihrer Zukunftsvision. Sie sind Hoffnung für El Salvador und für unsere Welt. Leider sind derartige Projekte kaum möglich ohne Unterstützung aus dem Ausland. Sowohl das Stipendienprogramm wie auch die ‚Escuela Campesina‘ werden ausschließlich aus Spendengeldern finanziert. Auch Menschen aus Deutschland und Ettenheim haben dies ermöglicht, durch ihre Spenden im Umfang von 1100 Euro, die sie mir während meinem Deutschlandbesuch im Februar und im Rahmen meiner Vortragsveranstaltungen zukommen ließen. Wenngleich Spenden auch längst nicht alle Probleme lösen können und tiefgreifende Veränderungen in unser aller Verhaltensweisen notwendig sind, ich, und besonders die Jugendlichen selbst sind für diesen wichtigen Beitrag sehr dankbar.

Der Artikel auf der website der BZ: http://www.badische-zeitung.de/ettenheim/bildung-als-schluessel--86688646.html