Montag, 29. Juli 2013

Die Kinder aus der „22 de Abril“

Ein Zimmer in einer der sichersten Zonen der Stadt, ein Stipendium aus Deutschland, ein Masterstudium an einer der renommiertesten Privatuniversitäten Mittelamerikas, „ist das El Salvador?“, frage ich mich. Es ist El Salvador, daran besteht kein Zweifel. Aber ist es das El Salvador der großen Mehrheit? Das El Salvador in dem knapp die Hälfte der Bevölkerung von weniger als 1$ pro Tag lebt, in dem 40% der Kinder arbeiten müssen um ihre Familie zu unterstützen? Ist es das El Salvador in dem ein Viertel der Landbevölkerung keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser hat und wo 15,5% der Kinder unterernährt sind? Gewiss nicht! Auch wenn ich in meinem kleinen Leben hier nicht sonderlich großspurig auf den Putz haue, auch wenn ich keine Waschmaschine besitze und meine Wäsche jeden Samstagvormittag im Hof von Hand wasche, kann ich kaum verleugnen, dass meine Lebensumstände doch sehr denen einer kleinen, reichen Oberschicht gleichen. Auch am Ende des Monats reicht mir das Geld für zwei warme Mahlzeiten am Tag und dank meiner Auslandskrankenversicherung muss ich nicht in Existenzängste geraten wenn ich einmal krank werde. „Kein Selbstbehalt“, heißt es in der Versicherungspolice. Die 45€ werden mir monatlich bequem vom Konto abgebucht.

Wenn es in einer Gesellschaft viele Arme und einige Reiche gibt, läuft notwendigerweise irgendetwas falsch. Solch eine Situation kann nur zustande kommen wenn die Reichen, auf welche Art auch immer, auf Kosten der Mehrheit des Volkes leben. So drückt es mein Geschichtsprofessor Rodolfo Cardenal aus, übrigens ein Neffe des nicaraguanischen Dichters und Befreiungstheologen Ernesto Cardenal. Hier läuft also etwas falsch. Diese These gilt gewiss nicht nur für El Salvador oder die sogenannten Entwicklungsländer, sondern für die Welt als Ganze, doch dies ist ein anderes Thema.

Doch wo ist dieses El Salvador der nach Gerechtigkeit dürstenden und nach Brot hungernden Massen zu finden? Zu abgeschottet sind die „sicheren“ Wohnviertel derer die können, zu schrill die Werbetafeln der gigantischen Konsumtempel „Multiplaza“ und „La Gran Vía“. Will man das sehen, was keiner sehen will, muss man genau hinsehen, hingehen. Ich will sehen um zu verstehen. 

Seit einiger Zeit bin ich in Kontakt mit einem deutschen Dominikanerpater, der bereits seit über 30 Jahren in El Salvador lebt und mit einer Radikalität und Entschlossenheit an der Seite der Armen kämpft, wie ich es nur bei wenigen Menschen erlebt habe. Das Engagement von Padre Gerardo begann bereits in den ersten Jahren des Bürgerkriegs, als er in den Flüchtlingslagern in Honduras und Guatemala arbeitete. Mittlerweile hat er ein breites Netz von Institutionen und Projekten aufgebaut, darunter Schulen, Gesundheitsposten, Kindergärten und eine Ökofarm. Alle Projekte folgen einer empowernden und ressourcenorientierten Pädagogik, die der Lebenswelt der Menschen hier entspricht.

Es ist 9.00 morgens, die Sonne brennt bereits auf die Backsteinfassaden der Häuser in der „Colonia 22 de Abril“ in Soyapango, einer dichtbevölkerten Vorstadt von San Salvador. An diesem Vormittag will ich die „Escuela bajo cielo“, die „Schule unter freiem Himmel“ besuchen, eines der Projekte des Padre. Von der Bushaltestelle an der Avenida, gehe ich die schmale Hauptstraße hinauf, die durch das gesamte Viertel führt. Obwohl mir Lidia, die Projektleiterin am Telefon versichert hatte, dass es in der letzten Zeit recht ruhig zugeht und ich daher den Weg von der Bushaltestelle problemlos alleine gehen kann, lege ich einen Schritt zu und nehme den direkten Weg zum Büro der Projektleitung, wo sich auch die kleine öffentliche Bibliothek der Colonia befindet. Es ist augenscheinlich, dass das hier nicht mehr mein ruhiges Antiguo Cuscatlán und auch nicht das kunterbunte Stadtzentrum ist. Hier weht ein anderer Wind, der Wind der „Mara Salvatrucha“ oder auch MS-13, eine der gefährlichsten und gewalttätigsten Banden der Welt.

Die Maras in Mittelamerika

An dieser Stelle ist ein kurzer Exkurs nötig. Die Bandenkriminalität ist eines der gravierendsten Probleme der Gesellschaften Mittelamerikas. Mordanschläge, Schutzgelderpressungen und Raubüberfälle lähmen immer wieder weite Teile des öffentlichen Lebens und versetzen die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Es handelt sich jedoch um weit mehr als eine erhöhte Kriminalitätsrate. Die Bandenproblematik Mittelamerikas ist ein gesellschaftliches Phänomen, das an den Grundfesten der Demokratie und der aktuellen Gesellschaftsordnung rüttelt. Eine eindeutige Erklärung für Ursache und Ursprung des Problems gibt es nicht, es gibt jedoch Theorien. 

Es war wohl in den 70er und 80er Jahren als sich marginalisierte Jugendliche, hauptsächlich Einwanderer aus Mittelamerika und Mexiko in den Armenvierteln von Los Angeles, USA, in Straßengangs organisierten. Neben kleineren Delikten wurden sie nach und nach in den Drogenhandel verwickelt. Es begangen sich verschiedene Gruppen herauszubilden, die sich gegenseitig anfeindeten und ihre Territorien verteidigten. Raub, Mord und Racheakte waren an der Tagesordnung. Zwei Gangs wurden auf diesem Wege am einflussreichsten: das „Barrio 18“ (La 18) auf der einen Seite und die „Mara Salvatrucha“ (MS-13) auf der anderen. Beide bestanden zu einem Großteil aus salvadorianischen Einwanderern, die vor dem Bürgerkrieg geflohen waren und sich in den Vereinigten Staaten ein besseres Leben erhofft hatten, vergeblich. 

Seit dem Ende des Bürgerkriegs 1992 wurden mehr und mehr Bandenmitglieder in ihre Heimatländer abgeschoben. Traumatisiert von der Kriegserfahrung, ohne Familie, Arbeit und Perspektiven war die Gang für viele die einzige Hoffnung. Hier erfuhr man Anerkennung, Sicherheit und Zusammenhalt. Die alten Strukturen begannen sich in El Salvador neu zu etablieren. Die Mitglieder waren längst keine Jugendlichen mehr und widmeten sich zunehmend dem organisierten Verbrechen, Drogen-, Waffen- und Menschenhandel. Die alten Feindseligkeiten zwischen der „18“ und der „MS“ verschärften sich. Beide wollten die Oberhand gewinnen. Die Folge waren und sind bis heute blutige Auseinandersetzungen zwischen beiden Seiten, die sich inmitten einer sich demokratisierenden Gesellschaft abspielen. Im Jahr 2006 lag die Mordrate in El Salvador pro 100.000 Einwohner bei 56,2, die höchste der Welt. Zum Vergleich, weltweit waren es im gleichen Zeitraum 8,8 und auf selbst dem amerikanischen Kontinent „nur“ 19,3 Morde pro 100.000 Einwohner. Ein schreckliche Realität, die sich nur schwer in Statistiken begreifen lässt.

Auch in jüngster Zeit finden die Banden stetigen Zulauf besonders unter Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren. Weshalb? Nach wie vor sind die Zukunftsperspektiven für Jugendliche hier in El Salvador oft sehr schlecht. Mangelhafte Schulbildung, Armut, Gewalterfahrungen tun ihr übriges. Hinzu kommt, dass viele Familien zerrüttet sind, Eltern oder Elternteile in die USA ausgewandert sind, um ihren Kinder, die meist zurück bleiben, ein besseres Leben zu ermöglichen. Die „Mara“, wie man die Gangs hier nennt, bietet den Jugendlichen nach wie vor vermeintlich alles was sie brauchen: Geborgenheit, Anerkennung, Geld und vor allem eine Identität. Wer einer „Mara“ beitritt wird Teil einer Familie. Auch, wenn es innerhalb der Gangs eine strenge Rangordnung gibt, kennen die Solidarität und der Zusammenhalt keine Grenzen. Die Mitglieder identifizieren sich voll und ganz mit ihrer Mara. Am sichtbarsten ist dies an den Tätowierungen, die die Mitglieder am ganzen Körper, oft auch im Gesicht tragen. Eintätowierte Totenschädel, Kampfparolen oder eine große 13 oder 18 lassen einen jedes Mitglied sofort seiner jeweiligen Mara zuordnen. 

Aus diesem Grund verlassen viele Gangmitglieder auch kaum ihr eigenes Stadtviertel. Ein Ausflug ins Zentrum könnte leicht tödlich enden, läuft ihnen ein Mitglied der gegnerischen Mara über den Weg. Andernfalls würden sie sofort von den Sicherheitskräften verhaftet werden, die seit Jahren verzweifelt mit allen Mitteln gegen die Bandenproblematik anzukämpfen versuchen und ihrer nicht Herr werden. In ihren Vierteln sind „Mareros“ quasi absolut sicher. Ihre Feinde trauen sich dort nicht hin und auch die Polizei und das Militär betreten bestimmte Stadtbezirke nicht. Somit werden gewisse Viertel komplett von den Banden kontrolliert. Sie sorgen dort für Ruhe und Ordnung, und wer sein Schutzgeld bezahlt und sich mit keinem Bandenmitglied anlegt hat kaum etwas zu befürchten. Seit dem vergangenen Jahr hat die Regierung als Vermittlerin einen Waffenstillstand zwischen dem „Barrio 18“ und der „Mara Salvatrucha“ ausgehandelt, um die Situation immerhin annähernd in den Griff zu bekommen. Die Mordrate ist seitdem geringfügig gesunken und auch die Sicherheitskräfte werden bis zu einem gewissen Maß wieder geduldet. Ganz lässt sich das Problem wohl in nächster Zeit nicht aus der Welt schaffen. Es ist zu viel Geld und zu viel Macht im Spiel. Die Maras kontrollieren nahezu den kompletten Drogenfluss, der aus Südamerika kommt und in die USA und weiter nach Europa fließt.






Leben in der "22 de Abril"

Die „Colonia 22 de Abril“ in Soyapango ist fest in der Hand der „Mara Salvatrucha“. Früher gab es wohl auch eine Untergruppe der „18“ im Viertel, diese wurde jedoch restlos ausgelöscht. Ich erreiche das Büro von Padre Gerardo und werde dort von Lidia herzlich empfangen. Die beiden Lehrerinnen der „Escuela bajo cielo“ sind schon da und bereiten die Materialen vor. An diesem Tag ist ein kleines Fest anlässlich des Welttages der Umwelt geplant.

Die „Escuela bajo cielo“ ist ein offenes Freizeitangebot für Kinder aus dem Viertel. Die Idee ist es den Kindern in ihrer Freizeit eine sinnvolle Beschäftigung anzubieten und sie so vor schlechtem Umgang zu bewahren. Es gibt Materialien zu vielen Themen. Die Kinder dürfen spielen, lesen, malen, basteln, zu was sie eben gerade Lust haben, alles unter der Aufsicht von zwei ausgebildeten Erzieherinnen. Die „Schule“ wandert alle drei Monate an einen anderen Ort, öffentliche Plätze, Parks, in der Colonia, so haben alle Kinder die Möglichkeit teilzunehmen. Außerdem gibt es entsprechend dem Schulstundenplan eine Vormittags- und eine Nachmittagsgruppe.

Das Kinderfest soll heute auf dem kleinen Sportplatz am oberen Ende des Viertels stattfinden. Mit den beiden Lehrerinnen mache ich mich auf den Weg. Einige Jugendliche begegnen uns auf der Hauptstraße, einem steht die 13 in großen Ziffern mitten ins Gesicht geschrieben. Einfach ruhig weitergehen und ignorieren, das hat man mir hier immer wieder eingetrichtert. Alleine sollte ich hier nicht unterwegs sein, denn jeder Unbekannte macht sich sofort verdächtig, das bedeutet hier Lebensgefahr. Mit den beiden Lehrerinnen habe ich allerdings nichts zu befürchten, denn die Projekte sind von der „Mara“ anerkannt und kommen schließlich auch deren Kindern zugute. 

Wir bahnen uns den Weg durch die engen Gässchen und Stück für Stück schließen sich uns immer mehr Kinder an, die mich zunächst neugierig beäugen und dann mit Fragen durchlöchern. Am Sportplatz ist bereits die kleine provisorische Bühne aufgebaut und der Zaun mit Luftballons und von den Kindern gemalten Bildern dekoriert. Heute sind etwa 25 Kinder gekommen, die teilweise bereits für ihre Rollen in den kleinen Sketchen und Stücken verkleidet und geschminkt worden waren. Die ganz Kleinen aus dem Kindergarten des Viertels sind auch zu Besuch gekommen. Das Spektakel kann beginnen. Die Kinder haben die Geschichten selbst erfunden und das Bühnenbild in den Tagen zuvor mit Hilfe der Erzieherinnen gestaltet. Mit viel Freude und Enthusiasmus sind sie bei der Sache und erzählen beispielsweise die Geschichte vom Leben einer Blechdose, sie singen und tanzen gemeinsam. Am Ende gibt’s für alle Süßigkeiten und Eis. Ismael ist bis über beide Ohren mit Schokoladeneis verschmiert, strahlt mich an und meint, „lass uns Fußball spielen“. Die ganze Meute, Jungs und Mädchen stürzt sich auf den Ball. Dazwischen wird Seil gehüpft und Mangos vom benachbarten Baum stibitzt. Eine glückliche Kindheit, könnte man meinen. 






Wendy, eine der Lehrerinnen, erklärt mir jedoch, dass die meisten der Kinder aus Familien von Bandenmitgliedern kommen und Gewalt von klein auf zu ihrem Alltag gehört. „Die größeren unter ihnen, die zwölf- und dreizehnjährigen haben selbst schon die ersten Verbindungen zur Mara“, meint sie bedrückt. Wer aus einer Zone wie der „22 de Abril“ kommt hat in El Salvador wenig Chancen. Das Bildungsniveau ist niedrig, die Armut groß und die meisten potentiellen Arbeitgeber laden einen nicht einmal zum Vorstellungsgespräch ein, wenn sie lesen, dass ein Bewerber aus einer bestimmten Gegend kommt. Was bleibt ist die Mara.

Das Fest ist zu Ende. Die Kinder spielen noch und am Rand des Spielfelds versammeln sich einige Jugendliche. Ich spreche kurz mit ihnen, stelle mich vor, gebe ihnen drei meiner übrigen Bonbons ab. Einer von ihnen, kaum älter als 16 und von hagerer Gestalt, ist der zuständige „Marero“, der auf dieses Gebiet „aufpasst“, wie mir Wendy später erklärt. Es kommen mehr und mehr Jugendliche. Wendy und ihre Kollegin packen die Materialen zusammen und bedeuten mir mitzukommen. Wir verabschieden uns von den Kindern und machen uns auf den Rückweg zum Büro. Wendy klärt mich auf: „Immer wenn sie sich so versammeln, heißt das, dass sie etwas vorhaben. Manchmal nehmen sie auf dem Sportplatz neue Mitglieder auf, dann hören wir nur die Schläge und Schreie oder an den Nachmittag gibt es hin und wieder Schusswechsel mit der ‚18‘ die das Viertel auf der anderen Seite des Flusses kontrolliert. Wenn so etwas passiert signalisieren sie uns immer, dass wir nun besser gehen sollten, da sie nicht wollen, dass uns etwas zustößt.“ 

Die Aufnahmerituale der „Mara Salvatrucha“ sind berüchtigt. Das neue Mitglied, das in der Regel zuvor eine Feuerprobe, zumeist ein Mord oder Raubüberfall, bestehen musste, wird in die Mitte eines Kreises gestellt. Der Bandenchef zählt langsam bis 13 und die übrigen „Mareros“ schlagen und treten in der Zwischenzeit wie wild auf den Neuling ein bis dieser winselnd am Boden liegt. Von diesem Zeitpunkt an ist er ein vollwertiges Mitglied der Mara. Er hört auf als Individuum zu reden, zu handeln und zu leben. Sein Leben ist von nun an die Mara. Er setzt sein Leben ein für die Mara und nicht wenige verlieren es dabei. Im Gegenzug verteidigt die Mara bis aufs Blut das Leben jedes ihrer Mitglieder. Ist man einmal in die Mara aufgenommen, ist der einzige Weg hinaus der Tod. Kaum ein Mitglied schafft es sich wieder von der Bande loszusagen. Nicht wenige, die es versucht haben, wurden von ihren eigenen Gangkollegen als Verräter hingerichtet. Für die Zivilbevölkerung ist das alles jedoch etwas weniger dramatisch. Hier gilt, wer sich an die Spielregeln hält, die die Mara vorgibt, lebt ziemlich sicher und wird sogar noch beschützt.

Die Maras in Mittelamerika haben sich zu einem unbezwingbaren Monster entwickelt, zum Krebsgeschwür einer kranken Gesellschaft. Die Gangmitglieder sind zum Einen Opfer eines gescheiterten Systems und einer nicht verarbeiteten Vergangenheit auf der Suche nach einem Leben, das die Gesellschaft ihnen stets verwehrt hat. Zum Anderen sind sie Täter, eine Kraft die die Gesellschaft nicht zur Ruhe kommen lässt und jeden Fortschritt im Keim erstickt. Lösungen und mögliche Auswege werden seit Jahren im gesamten politischen und gesellschaftlichen Spektrum diskutiert, von Massenverhaftungen über den Waffenstillstand bis hin zu Rehabilitationsprogrammen. Die Gesellschaft in El Salvador muss ihren Weg in den Frieden letztlich selbst gehen und auf diesem Weg noch viele Wunden heilen. Die Mareros selbst erkennen immer öfter, dass dies nicht das Leben ist, das sie sich für ihre Kinder wünschen. Was bleibt ist den Frieden vorzuleben in der Schule, der Familie und im öffentlichen Leben und zu hoffen, dass die Spirale der Gewalt sich irgendwann nicht mehr weiter dreht.

Wir verstauen die Materialien wieder im Büro und ich verabschiede mich für diesen Tag. Die Lehrerinnen bleiben noch, um die nächsten Einheiten vorzubereiten und ich versichere den Weg zur Bushaltestelle alleine gehen zu können. Ich trete ins Freie, als zwei halbstarke Jungs die Hauptstraβe hinaufkommen, mit nackten Oberkörpern und im provokanten, ausladenden Gang der Mareros. Ich halte die Luft an, nicht hinsehen. Sie gehen vorbei, ohne mich zu beachten, gesehen haben sie mich. Als ich mich ablenken will, fällt mein Blick auf die Hauswände. Sie sind voller Graffitis. In riesigen, verzierten Lettern steht dort „Mara Salvatrucha“, weiter vorn „MS-13“. Auf diese Weise markieren die Gangs ihr Revier. Ein unwohles Gefühl ergreift mich plötzlich. Ich will einfach nur noch hier raus.



Nur 45 min. später steige ich in Antiguo Cuscatlán, oben am Fuβgängerzugang der UCA aus dem Bus und trete wieder wie in eine andere Welt. Die Fastfoodrestaurants sind voller Studenten, es ist Mittagszeit, stattliche Limousinen mit getönten Scheiben schieben sich durch die Straβen. Selbst die Luft scheint eine andere zu sein, oder ist es nur weil ich wieder atmen kann?

Mir ist nun klar, wie nie zuvor, dass laengst nicht alle Menschen in dieser Stadt diese Luft atmen koennen. Mir ist auch klar, dass El Salvador fuer die grosse Mehrheit keineswegs lateinamerikanisches Lebensfreude bedeutet, sondern blanke Angst ums taegliche Ueberleben. Was ich in der "22 de Abril" erleben durfte war eine einschneidende Erfahrung. Eine Erfahrung, die mich den Menschen in El Salvador ein gutes Stueck naeher gebracht hat, die mich vieles besser verstehen liess. Verstehen ist die notwendige Voraussetzung fuer jedes verantwortungsvolle Handeln.