Sonntag, 22. September 2013

Alternativlos.


ICH: Hey Jaimito, wie gehts dir?

JAIMITO: Läuft, und selbst? Wohin denn so eilig?

ICH: Ach, nicht der Rede wert. Muss eben noch zum Wahllokal
meine Stimme abgeben. Heute ist doch Wahl in Deutschland
weißt du.

JAIMITO: Tatsächlich? Kann man bei euch das Deutschland wählen, das
man gerne hätte? Wen wählst du denn?

ICH: Weiß noch nicht. Ist auch egal, ändern wird sich ohnehin
nicht viel. Laut unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel ist die
Situation in Deutschland „alternativlos“.

JAIMITO: Ach herrje, das ist ja schrecklich! Wir wissen nur zu gut was
das bedeutet. In unserem Land ist das auch so. Wer
Alternativen fordert wird gefoltert. Wer sich gewerkschaftlich
organisiert wird gefeuert. Wer kein Geld hat, existiert nicht.

ICH: Nein. Nein. Jaimito du verstehst mich falsch. In Deutschland
leben wir in einer Demokratie. Alle haben das Recht frei ihre
Meinung zu äußern. Alle Kinder können die Schule besuchen
und wer keine Arbeit hat, wird vom Staat unterstützt. Die
Wirtschaft boomt. Deutschland ist Exportweltmeister. Den
meisten Deutschen geht es sehr gut. Daran möchte niemand
etwas ändern. Alternativlos gut eben.

JAIMITO: Das ist ja merkwürdig. Das Deutschland hier, das wir kennen,
ist anders. Meine Mama arbeitet dort in einer Kleiderfabrik. Sie
ist Näherin. Sie näht Etiketten mit der Aufschrift „Hergestellt in
Deutschland“ in Wintermäntel. In deinem Deutschland muss
es ja ganz schön kalt sein. Meine Mama wird auch nicht vom
Staat unterstützt. Wenn sie auf die Toilette muss, wird sie
angeschrien, wenn sie nicht schnell genug, arbeitet wird ihr
der Lohn gekürzt. Das muss so sein, sagt ihr Chef. Die
deutschen Unternehmen machen Preisdruck. Freie
Marktwirtschaft, nennt er das. Sie soll froh sein, dass sie
Arbeit hat. Das hat sie wahrlich genug, 16 Stunden am Tag.

ICH: Das ist ja traurig. Aber Kopf hoch Jaimito, das wird schon. In
Deutschland ist das eine absolute Ausnahme.

JAIMITO: In unserem Deutschland nicht. Mein Papa arbeitet in einer
Goldmine, die vor einigen Jahren bei uns hinterm Dorf
aufgemacht hat. Früher war er Bauer, aber eines Tages kamen
Männer in schwarzen Uniformen und mit großen Gewehren
und nahmen meiner Familie das Land weg. Sie sagten, wir
können ja in der Mine arbeiten. Das ist gute Arbeit und bringt
Entwicklung. Der Goldhandel läuft so gut wie nie auf dem
Weltmarkt. Krisenzeiten, sagen sie. Entwickelt hat sich
tatsächlich viel seither. Mein Papa leidet an Asthma, wegen
der Schwermetalle denen er täglich in der Mine ausgesetzt ist.
Der Fluss, in dem wir früher badeten und Fische fingen hat
jetzt keine Fische mehr, aber dafür hat das Wasser jetzt eine
lustige gelbe Farbe. Viele meiner Klassenkameraden haben
komische Ausschläge auf der Haut und der Mais den wir früher
anbauten wächst jetzt nicht mehr, weil meist schon die Saat
von den zunehmenden Überschwemmungen weggespült wird.

ICH: Das tut mir leid Jaimito. Aber das kann unmöglich Deutschland
sein.

JAIMITO: Doch, doch! Ganz sicher! Am Eingang der Mine steht auf
einem großen Schild: Hauptinvestor - Deutsche Bank,
Leistung aus Leidenschaft.

ICH: Hmmm… aber warum reicht ihr keine Beschwerde beim
Landratsamt ein oder protestiert wie wir Wut-Bürger vor dem
Bundestag?

JAIMITO: Bei den Behörden hört uns keiner zu und protestieren…
[Jaimito schluchzt] Ich hatte einen großen Bruder. Er ging
mit vielen anderen Männern und Frauen aus meinem Dorf auf
die Straße, um friedlich unsere Rechte einzufordern. Sie haben
ihn erschossen mit einem Sturmgewehr von Heckler & Koch,
Made in Germany. Es waren unsere Polizisten, ausgebildet von
einem Expertenteam der deutschen Bundespolizei, zur
Friedenssicherung.

ICH: Jaimito, ich weiß nicht was ich sagen soll. Aber immerhin
kannst du ja später einen guten Beruf erlernen oder studieren,
um die Dinge in deinem Dorf zu verbessern. Streng dich nur
an in der Schule und du wirst sehen.

JAIMITO: In die Schule gehe ich schon seit drei Jahren nicht mehr. Ich
muss auf meine kleinen Geschwister aufpassen und arbeite
auf dem Markt als Schuhputzer. So verdiene ich uns
wenigstens ein warmes Mittagessen. Um mehr Schulen zu
bauen und gute Lehrer einzustellen hat der Staat kein Geld.
Dein Deutschland und andere Länder verlangen von unserer
Regierung Wirtschaftswachstum, damit wir die Zinsen von
dem zurückzahlen können, was wir euch schulden.
Auslandsschuld glaube ich heißt das. Mein Papa sagt, diese
Schulden sind ungerecht. Ihr habt uns auch nicht
zurückgezahlt, was ihr uns in der Kolonialzeit und in all den
Kriegen gestohlen habt. Aber wenn er das laut sagt, verhaften
sie ihn.

ICH: Jaimito, das sind ja schreckliche Dinge die du da erzählst.
Merkwürdig, dass das Deutschland sein soll. Das muss ja ein
ganz versteckter Winkel im Land sein, habe ich doch all die
Jahre nie etwas davon mitbekommen. In den Nachrichten hört
man davon nichts und auch die Politiker reden nur über
Steuerreformen und Rettungsschirme für Banken. Wo liegt
denn euer Deutschland genau?

JAIMITO: Unser Deutschland liegt in den Minen von Peru, in den
Schützengräben des Kongo, auf den Palmölplantagen Borneos
und Sumatras. Es herrscht in den Fabrikhallen von
Bangladesch und El Salvador und grast auf den Rinderfarmen
in Brasilien. Aber unser Deutschland ist auch ganz nah bei dir.
Es fährt auf deinen Autobahnen, vibriert in deiner
Hosentasche, hält dich warm im Winter, liegt in deinen
Banktresoren und steht im Kühlregal deines Supermarktes. Es
ist da, aber du willst es nicht sehen. Viele von uns beginnen
sich zu fragen, wo denn alles hingeht, was vorher bei uns war.
Wenn es bei uns auf einmal so wenig gibt, muss es doch einen
Ort geben, an dem es viel gibt. Sie machen sich auf die Suche.
Andere wollen nicht weggehen von ihrem Land, aber sie
können nicht bleiben, denn dort gibt es nichts mehr für sie.
Sie kommen jeden Tag in dein Deutschland zu hunderten,
tausenden, auf selbstgezimmerten Booten über das
Mittelmeer, mit Schlepperbanden, Menschenhändlern, zu Fuß.
Sie sind da, aber du willst sie nicht sehen.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hast du Recht. Dieses
Deutschland ist alternativlos. Wir haben keine Wahl…

Wir haben die Wahl, jeden Tag.
Übernehmen Wir Verantwortung, jeden Tag!
Geben Wir Jaimito eine Stimme, jeden Tag!


Donnerstag, 12. September 2013

Auf dem Weg nach Norden (I)



Es ist 5.30 Uhr morgens und ich reibe mir den Schlaf aus den Augen, als ich am Fernbusterminal im Zentrum San Salvadors in der Schlange des Ticketschalters warte. Hinter mir stehen, ebenso wie ich wartend, ein junger Mann und eine junge Frau etwa in meinem Alter. Dass es sich um eine Frau und nicht um einen Jungen handelt sehe ich erst auf den zweiten Blick. Sie ist von zierlicher Gestalt, trägt einen dunklen Pullover, dessen Kapuze sie tief ins Gesicht gezogen hat. Ihre Haare sind kurz geschoren. Beide sind unauffällig und bequem gekleidet, tragen Turnschuhe und auf dem Rücken jeweils einen kleinen Tagesrucksack. Die junge Frau blickt sich nervös um und wechselt einige Worte mit ihrem männlichen Begleiter. 
42US$ kostet mich die Fahrt im Direktbus von San Salvador nach Tapachula, in Chiapas, dem südlichsten Bundesstaat Mexikos. Neun Stunden soll die Fahrt dauern. Als wir im Bus sitzen, raunt mir Fide, eine junge Ordensschwester, die bereits einige Zeit in dem Projekt in Mexiko arbeitet und die ich auf dieser Reise begleite, zu: „Hast du die beiden hinter dir gesehen? Das sind Migranten.“ Ich schlucke. Die Geschichte, die mich nach Norden führt, beginnt also bereits hier.

Exodus ins Ungewisse
Knapp 4000 Kilometer und drei Staatsgrenzen trennen El Salvador und die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Nichtsdestotrotz ist das Imperium allgegenwärtig im salvadorianischen Alltag, am unmittelbarsten vermutlich, wenn mein Blick beim Bezahlen in der Pupusería auf die bronzen glänzende Freiheitsstatue auf der 1$ Münze fällt. Seit 2001 ist der US Dollar offizielle Währung in dem kleinen mittelamerikanischen Land. Damit nicht genug, die überdimensionierten, bunten Reklametafeln von Mc Donald’s, Burger King, Pizza Hut und Wal Mart gehören längst zum gewohnten Stadtbild San Salvadors, Coca Cola kontrolliert weite Teile der Süßwasserreserven El Salvadors und die amerikanische Schule ist die angesehenste im Land.
Doch die Verbindungen gehen noch weiter, noch tiefer. Praktische jede salvadorianische Familie hat zumindest ein Familienmitglied in den Vereinigten Staaten. Aktuellen Schätzungen zufolge leben etwa 3 Millionen Salvadorianer in den USA, das entspricht einem Drittel der Bevölkerung El Salvadors. Wer in die Vereinigten Staaten auswandert, sucht in der Regel Arbeit, die es im Heimatland nicht gibt oder die so schlecht bezahlt ist, dass sie nicht ausreicht, um die Familie zu ernähren. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die salvadorianische Wirtschaft. Im vergangenen Jahr flossen rund 2 Milliarden US Dollar aus dem Norden nach El Salvador. Die Rücküberweisungen machen etwa 16% des salvadorianischen Bruttoinlandsproduktes aus.
Die meisten Immigranten leben seit vielen Jahren in den USA. Sie kamen als Bürgerkriegsflüchtlinge in den 1970er und 80er Jahren in die Latino Hotspots Los Angeles, Houston, Miami oder New York. Doch auch heute noch machen sich tagtäglich hunderte Mittelamerikaner, in der Mehrzahl aus Honduras und El Salvador, auf den Weg nach Norden, schätzungsweise 140.000 pro Jahr.
Diese Zahlen kommen einem Exodus gleich. Der Migrationsfluss von Lateinamerika in die USA ist der größte weltweit und vermutlich der größte in der Geschichte der Menschheit. Eine derartige Völkerwanderung ist nicht zu vertuschen, wenngleich die großen Medien und die Regierungen aller beteiligten Länder dies mit allen Mitteln der Kunst versuchen. Sie wirft Fragen auf.
- Wie gelangt eine so große Zahl von Migranten in die USA?
- Wer sind diese Menschen, die zuhause alles zurücklassen und sich auf den Weg ins Ungewisse
   machen?
- Was bewegt sie dazu?
Ich habe mich auf den Weg in den Norden gemacht, um Antworten zu finden, um zu verstehen. Was ich fand waren unglaubliche Geschichten und mehr Fragen als Antworten.

Ohne Papiere, kein Durchkommen
Im Bus laufen Hollywoodkomödien und am späten Vormittag haben wir bereits Guatemala Stadt hinter uns gelassen. Vorbei an einem niemals enden wollenden Flickenteppich aus Maisfeldern durchqueren wir das guatemaltekische Hochland, immer weiter nach Norden. Einige Stunden später hält Bus abrupt an und der Fahrer ruft nach hinten: „Alle die nur bis San Pedro fahren, hier aussteigen!“ Das junge Paar schnallt sich hastig die Rucksäcke auf den Rücken und verlässt ohne sich umzublicken den Bus. Doch ihre Reise ist hier keineswegs zu Ende. Hier beginnt sie. Ob die beiden jungen Salvadorianer die Vereinigten Staaten jemals erreicht haben kann ich nicht sagen. Ich sollte sie nie wieder sehen.
Wenige Minuten später erreichen wir den Grenzort Hidalgo. Ich passiere den Zoll, fülle ein Formular aus, bekomme einen Stempel in meinen deutschen Reisepass und bin in Mexiko. Für die Mittelamerikaner ist das nicht so einfach. Wer nach Mexiko einreisen will braucht ein Visum. Ein solches zu bekommen ist sehr schwierig und wer nur über geringe finanzielle Mittel verfügt, hat praktisch keine Chance. Aus diesem Grund müssen die meisten Migranten aus Mittelamerika an dieser Stelle der Reise untertauchen.
Der Bus setzt sie einige Kilometer vor der Grenze ab, dort warten Kleinbusse auf sie, die sie für teures Geld an einen sogenannten blinden Fleck bringen, wo sie auf provisorischen Flößen den Fluss überqueren, um so nach Mexiko zu gelangen. Jeder weiß Bescheid. Über Jahre hinweg ist eine regelrechte Infrastruktur aus Busfahrern, Flößern, Schlepperbanden und korrupten Migrationsbeamten entstanden, die alle ihr Stück vom Kuchen abbekommen.
Einmal in Mexiko setzen die meisten Migranten ihre Reise massenhaft als blinde Passagiere auf den Güterzügen fort, deren Schienennetz über mehrere tausend Kilometer von Süden nach Norden führt. Die Reise auf dem Zug ist gefährlich. Neben der brennenden Hitze und klirrenden Kälte der mexikanischen Wüste ist es das ständige Versteckspiel mit den staatlichen Behörden sowie in jüngster Zeit mehr und mehr das hoffnungslose Ausgeliefertsein an das organisierte Verbrechen, Drogenkartelle, Menschenhändler und Killerbanden, was dazu führt, dass viele Migranten ihr Ziel niemals erreichen. Es erscheint nachvollziehbar, dass in Migrantenkreisen der Zug schlicht „die Bestie“ genannt wird.
Das Schienennetz der "Bestie"

 
Tausende Migranten reisen täglich auf Güterzügen durch Mexiko

Nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt liegt Tapachula. In der schmucklosen Provinzhauptstadt warten wir auf die nächste Busverbindung nach Ixtepec, dem Ziel unserer Reise, etwa sieben Stunden weiter nördlich im Bundesstaat Oaxaca. Es ist bereits kurz vor Mitternacht als wir Tapachula im vollklimatisierten Reisebus verlassen. Kaum haben wir die Stadt hinter uns gelassen hält der Bus plötzlich an. Die Türe öffnet sich und eine Beamtin der nationalen Migrationsbehörde steigt ein, Ausweiskontrolle. Mit ernstem Gesicht mustert sie meinen Einreisestempel. Weiter geht die Fahrt.
Nur wenige Minuten später der nächste Halt, ein Militärposten. Zwei schwerbewaffnete Soldaten gehen durch Bus, mustern jeden Einzelnen ohne auch nur ein Wort zu verlieren und steigen wieder aus. Eine Stunde später hält der Bus erneut. Alle Fahrgäste werden aufgefordert auszusteigen und ihr Gepäck entgegenzunehmen. Mitten im Nirgendwo, ein Zollposten. Schlaftrunken stehen etwa 100 Mexikaner und eine handvoll Ausländer in der Schlange, während mit hochmodernen Geräten, wie man sie an Flughäfen findet, jedes einzelne Gepäckstück durchleuchtet wird, auf der Suche nach Drogen, Waffen und weiß Gott sonst was.
Als wir am frühen Morgen in Ixtepec ankommen, habe ich kaum geschlafen und sieben Ausweis- und Gesichtskontrollen hinter mir, Bundespolizei, Militär, Zoll, Migrationsbehörde. Eines steht fest, für jemanden der diese Reise ohne Papiere unternimmt, ist hier kein Durchkommen.

Die Albergue „Hermanos en el Camino“, ein Haus für Migranten
Ixtepec ist eine eigentlich recht ruhige und verschlafene Kleinstadt im Flachland des Istmo de Tehuantepec. Ihre strategisch günstige Lage zwischen dem Pazifik und dem Golf von Mexiko und an der Güterzugstrecke nach Norden, haben sie in den vergangenen Jahren allerdings zu einem Dreh- und Angelpunkt des organisierten Verbrechens gemacht. Drogenkartelle, Menschenhändler und Auftragskiller, in Ixtepec haben sie alle ihre Zweigstelle und streifen wie hungrige Wölfe durch den endlosen Strom der Migranten aus dem Süden.
Am Stadtrand von Ixtepec, nur wenige Minuten vom Güterbahnhof entfernt, liegt, unmittelbar an den Gleisen, die Albergue „Hermanos en el Camino“ (Schwestern und Brüder des Weges). Die Herberge für Migranten gibt es seit 2007. Tausende Frauen, Männer und Kinder aus Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Cuba, Haiti, Südamerika und selbst aus Indien und Afrika haben hier bereits Zuflucht gefunden. Hier würde auch ich die folgenden drei Wochen verbringen und mitarbeiten, als Freiwilliger während meiner Semesterferien.
Nach meiner Ankunft bleibt wenig Zeit zum Ausruhen. Ein langgezogenes, lautes Hupen durchbricht die Stille dieses schwülen, frühen Morgens. „El treeeeen…“, ruft jemand aus dem Schlafsaal der Männer. Augenblicke später herrscht ein wildes Durcheinander auf dem Hof. Alles wird für die Ankunft der Neuen vorbereitet. Wieder das Hupen und plötzlich taucht sie auf unter dem bewölkten Morgenhimmel, die Bestie. Ächzend schiebt sie sich Meter für Meter bis zum Hintereingang der Herberge und gibt den Blick frei auf die Gestalten, die dicht aneinander hoch oben auf den Waggons kauern. Auf dem ersten sitzen ein paar einzelne, auf dem zweiten etwa 15, dann 30, 50, 80, dicht an dicht.
An diesem Morgen kommen etwa 800 Migranten in Ixtepec an. Das ist etwa Saisondurchschnitt. Um Weihnachten herum seien es deutlich mehr, erklärt mir Fátima, die bereits seit über einem Jahr als Freiwillige in der Herberge arbeitet. Zu der Zeit seien die Migrations- und Polizeiposten geringer besetzt und die Chancen auf ein Durchkommen höher.
Ein stählernes Krachen, das durch Mark und Bein geht, fährt durch den Zug und die Bestie kommt zum Stehen. Es kommt Bewegung in die Menschenknäuel auf den Waggondächern. Einer nach dem anderen klettern sie geschickt die Sprossen herunter auf die Gleise. Am Tor warten bereits die drei Polizisten, die der Bundesstaat Oaxaca zum Schutz der Herberge abgestellt hat.
Einrichtungen wie „Hermanos en el Camino“ in Ixtepec, die sich für die Migranten einsetzen, bewegen sich auf brisantem Terrain und haben viele Feinde. Jeder der die Herberge betritt, wird am Eingang genau unter die Lupe genommen und abgetastet. Waffen, Messer, Drogen und andere gefährliche Gegenstände sind tabu. Auch Handys müssen abgegeben werden, da es in der Vergangenheit häufig anonyme Telefonanrufe, Erpressungen und Drohungen gegenüber Migranten gab. 
Das Gesicht der "Bestie"

Zwischenstation in Ciudad Ixtepec
Vor dem Hauptgebäude werden die Migranten von Pfarrer Alejandro Solalinde, dem Gründer der Herberge, empfangen. Der mexikanische Priester, unter den Migranten einfach als der „Padre“ bekannt, ist einer der energischsten Menschenrechtsaktivisten in ganz Mexiko. Sein Einsatz geht weit über die Arbeit in der Migrantenherberge hinaus. Solalinde schweigt nicht, wenn multinationale Unternehmen gemeinsam mit korrupten Behörden indigene Bauerngemeinden von ihrem Land vertreiben. Er trifft sich in Mexiko Stadt mit den höchsten Staatsvertretern, um eine Reform des Asylrechts zu fordern und reist durch das ganze Land um auf all die Missstände aufmerksam zu machen.
Dieses Engagement stößt längst nicht bei allen auf Wohlwollen und Bewunderung. Mehrmals war der Priester bereits Morddrohungen und -versuchen ausgesetzt. Sowohl der hohen Politik als auch dem organisierten Verbrechen, den Drogenkartellen und Menschenhändlern ist seine Arbeit ein Dorn im Auge. Aus diesem Grund darf Solalinde seit einiger Zeit keinen Schritt mehr ohne die beiden Leibwächter, zwei mexikanische Bundespolizisten, machen.
Der „Padre“ heißt alle Neuankömmlinge persönlich willkommen. „Dies ist euer Haus. Ruht euch aus und sammelt neue Kräfte für den Weg.“ Mit diesen Worten wendet er sich an die Männer, Frauen und Kinder, deren Gesichter noch vom Hunger, der Erschöpfung und der Angst der vergangenen Tage und Wochen gezeichnet sind. Jeder darf bis zu drei Tagen in der Herberge bleiben, dann muss Platz für die nächsten gemacht werden. 
P. Alejandro Solalinde


Die Migranten bekommen hier dreimal am Tag eine warme Mahlzeit, können sich duschen, ihre Wäsche waschen und ausruhen. Diejenigen die ohne etwas ankommen, bekommen Schuhe und Kleidung aus Spenden, die regelmäßig in der Herberge abgegeben werden. Eine grundlegende medizinische Versorgung wird durch eine pensionierte Ärztin gewährleistet, die auf freiwilliger Basis die Migranten behandelt. Hin und wieder kommen auch Teams von „Ärzte ohne Grenzen“ ins Haus. Neben der Stillung der Grundbedürfnisse erhalten die Migranten auch rechtlichen Beistand und Beratung sowie Aufklärung über ihre Menschenrechte. All das wird gestemmt durch den Einsatz von Pfarrer Solalinde, von vier Ordensschwestern und einigen Freiwilligen, die manche kürzer, andere länger in der Herberge mitarbeiten.
Bevor es zum sehnlichst erwarteten Frühstück gehen kann, werden alle Neuangekommen registriert. An diesem Morgen sind es 154, die Zuflucht in der Herberge suchen. Es wird von jedem ein Foto gemacht, die Personalien aufgenommen und ein kurzes Interview geführt, um einen Überblick zu erhalten, wer in die Herberge kommt und wie es jedem einzelnen auf dem Weg ergangen ist. Die Information wird in das landesweite Netzwerk aller Migrantenherbergen eingespeist und dient vor allem dem Schutz der Migranten. Auf diese Weise kann bei einem eventuellen Verschwinden leichter der letzte Aufenthaltsort ermittelt werden und die Männer und Frauen hinterlassen ihre Namen und ihre Geschichte in der Anonymität des Weges.

Elsy hatte „Glück“
Ich mache die Fotos an diesem Morgen und hier treffe ich auf Elsy, eine junge Honduranerin, etwa Anfang zwanzig. Sie reist in Begleitung ihres Mannes und ihres Bruders. Ihre weißen Turnschuhe haben den mehrtätigen Gewaltmarsch durch das südmexikanische Hügelland nicht überlebt, ihre Füße sind angeschwollen und von Blasen übersät. Sie besitzt was sie am Leib trägt, dunkelblaue Leggins und ein schwarzes T-Shirt. Der kleine Rucksack, in dem sie Wechselkleidung, ihre Papiere und etwas Geld mit sich trug, ist ihr bereits vor Tagen von Wegelagerern abgenommen worden.
Hunger und Erschöpfung mag sie so gut es geht verbergen können, in ihrem hübschen Gesicht jedoch blickt man neben den tiefschwarzen Augen in blanke Angst. Ein Bandenmitglied ist ihr am Vortag am Güterbahnhof in Tapachula aufgelauert bevor sie auf den Zug stiegen und hatte ihr gedroht sie unterwegs zu vergewaltigen. Vierzehn Stunden dauerte die Fahrt von Arriaga nach Ixtepec. Elsy hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan und schreckliche Ängste ausgestanden. Sie hatte Glück, es ist bei der Drohung geblieben. Viele andere Frauen und junge Mädchen werden tagtäglich auf schrecklichste Weise auf dem Weg vergewaltigt. Wer Widerstand leistet wird vom Zug gestoßen und von der Bestie zermalmt.
Elsy ist nervlich am Ende, hat Tränen in den Augen. Sie denkt an ihre dreijährige Tochter, die sie zuhause in Honduras zurücklassen musste. Sie will nicht weiter, und ganz bestimmt nicht mehr mit dem Zug. Sie wusste, dass der Weg gefährlich sein würde, doch diesen Alptraum hatte sie sich nicht ausgemalt. Aber was bleibt ihr übrig? Obwohl sie aus einer vom Tourismus belebten Gegend an der Karibikküste kommt, ist Arbeit dort nicht zu finden. Ihr Mann und sie haben alles versucht. Auch die Gewalt in den Straßen nimmt jeden Tag zu. Honduras ist aktuell das Land mit der weltweit höchsten Mordrate.
Elsy und ihre Begleiter haben keinen Peso mehr in der Tasche. Was ihnen nicht gestohlen worden war, mussten sie auf dem Zug als Schutzgeld abgeben, man ließ sie im Gegenzug am Leben. „Wir sind am Leben, Gott sei Dank! Das ist das wichtigste.“, sagt Elsy mit einer Stimme, in der sich Verzweiflung und Hoffnung mischen, als sie mir dankbar die Zahnbürste und das Stück Seife abnimmt. Jetzt warten eine warme Mahlzeit, ein weiches Bett und drei Tage Pause auf die Migranten. Vielleicht schafft es hier der eine oder andere für einen kurzen Moment die Sorgen des Weges zu verdrängen.
Elsys Geschichte macht mich betroffen. Doch ich sollte bald feststellen, dass sie nur eine unter vielen ist, keine davon weniger tragisch, viele noch tragischer. Ich würde anfangen zu begreifen, was die Menschen dazu bewegt sich auf diesen mörderischen Weg zu machen. Da ist die Geschichte des achtzehnjährigen Bryan, der bereits seit einigen Monaten in der Herberge lebt und sich nichts sehnlicher wünscht als bei seiner Familie in El Salvador zu sein. Da ist auch die Geschichte des jungen Antonio aus Guatemala, dessen Zuhause seit dreizehn Jahren der Weg ist. Ich sollte erfahren, dass nicht alle Polizisten korrupt sind und, dass es auf die einfachsten Fragen keine einfachen Antworten gibt.
(Fortsetzung folgt)