Samstag, 5. April 2014

Romero lebt!



„¡Que viva Monseñor Romero!“ (Hoch lebe Erzbischof Romero!), ruft Mirna mit energischer Stimme. Sie ist eine korpulente Frau schätzungsweise Anfang vierzig, Rechtsanwältin bei der nationalen Polizeibehörde. „¡Que viva!“, antworten etwa 50 Männer und Frauen, Junge und Alte die sich an diesem Samstagnachmittag auf dem Dorfplatz von Nejapa vor der Kirche San Gerónimo versammelt haben. Mirna tritt einen Schritt zur Seite, überlässt mir das Mikrophon. Die Zuhörerinnen und Zuhörer schauen mich erwartungsvoll an. Wie komme ich hierher?

Mirna studiert mit mir zusammen den Master in lateinamerikanischer Theologie an der UCA. Vor etwa zwei Wochen sprach sie mich an und fragte ob ich bereit wäre an diesem Samstag ihre Gemeinde zu besuchen, um einen Vortrag über Oscar Romero zu halten, anlässlich des 34. Jahrestages seiner Ermordung. Ich stutzte zunächst.

Was sollte ein Deutscher, der gerade seit einem guten Jahr in El Salvador lebt und 1980 noch nicht einmal geboren war, den Salvadorianern über ihren ehemaligen Erzbischof und Volksheiligen erzählen können? „Nein, nein!“, lenkte Mirna ein. „Es geht mehr darum, dass du von deiner eigenen Erfahrung erzählst, dass die Leute verstehen können, was dich dazu bewegt hat, von so weit her zu uns zu kommen und unsere Geschichte zu studieren.“


Wasser für alle?


Ich ließ mich schließlich überzeugen und willigte ein. Am jenem Samstagnachmittag treffe ich Mirna in der Nähe des Regierungsviertels von San Salvador, von wo aus wir uns mit ihrem Auto auf den Weg nach Nejapa machen. Die Fahrt dauert eine gute halbe Stunde. Wir lassen die verstopften Straßen der Hauptstadt hinter uns, die Abgase, die Betonwüste, die die nachmittägliche Hitze unerträglich macht.

Bald fahren wir vorbei an grünen Fincas, die Landstraße gesäumt von Mangobäumen, Ceiba, Bananenpalmen und Marañón. Die Luft ist wie ausgewechselt. Ein angenehmer Wind weht durch das offene Fenster. Ich hole tief Atem.

„Unter uns befindet sich eines der größten Süßwasserreservoirs von El Salvador, deshalb ist es hier so grün“, erklärt mir Mirna. „Fast die ganze Hauptstadt wird aus diesem riesigen Grundwasservorkommen versorgt. Aber das bringt uns hier wenig. Seit ein paar Jahren haben es die großen Konzerne auf unser Wasser abgesehen.“ Ich schaue sie ungläubig an. Doch wie aus dem Nichts tauchen am Straßenrand riesige Industrieanlagen auf.

Agua Cristal, eine Tochtergesellschaft von der Coca-Cola Company hat hier seine Produktionsstätte. Der multinationale Konzern hat ein Quasimonopol auf dem salvadorianischen Trinkwassermarkt. Keiner weiß genau wieviel Grundwasser die Firma Tag für Tag aus der Erde saugt, filtert und in Plastikflaschen abfüllt.

Dieser massive Eingriff in den Wasserkreislauf bleibt nicht ohne folgen für Mensch und Natur. Der Rio San Antonio, ein kleiner Fluß aus dem die Menschen seit Jahrhunderten Wasser schöpfen, in dem sie baden und ihre Wäsche waschen, ist von Abwässern und Industriegiften verseucht. Die Häuser vieler Anwohner haben nur stundenweise fließendes Wasser, weil der Druck auf der Leitung nicht mehr ausreicht. Vielen bleibt nichts anderes übrig als Agua Cristal zu kaufen.

Eine Literflasche Agua Cristal kostet etwa 75 cent. Die Firma zahlt 44 US$ Gewerbesteuer im Monat. Das ist alles. Agua Cristal ist jedoch nicht der einzige, der die Erde unter Nejapa aussaugt. Direkt nebenan steht Jumex, ein mexikanischer Fruchtsaftfabrikant und der größte Brauereibetrieb des Landes plant die Eröffnung eines Standpunktes in der Zone.


Romero, Prophet und Volksheiliger


Als wir von der Landstraße abbiegen in eine ruhige und schattige Allee bin ich noch immer sprachlos. Wir erreichen Nejapa etwa um halb fünf. Der Ort besteht aus kaum mehr als einer Haupt- und einigen Seitenstraßen und liegt idyllisch am Fuße des Vulkans von San Salvador. Aus der Hauptstadt kommend ist es als würde ich in eine andere Welt eintauchen. Die Luft ist angenehm frisch, die Menschen lächeln freundlich, alles scheint hier ein bisschen langsamer zu gehen und der Ort strahlt eine geheimnisvolle Ruhe aus.

Wir lassen das Auto nahe dem Dorfplatz stehen und Mirna bedeutet mir ihr zu folgen. Der Platz ist bevölkert von spielenden Kindern, plaudernden Rentnern, Männern und Frauen die kleine Snacks und Getränke verkaufen, andere die kaufen. An den schattigen Park grenzen kleine Läden, Friseurgeschäfte, Restaurants, das Rathaus, die Bank, überall gehen Menschen ein und aus. Hier scheint sich das öffentliche Leben von Nejapa abzuspielen.

Zu Gast bei Mirna und ihrer Familie in Nejapa

Auf der gesperrten Hauptstraße vor der Kirche San Gerónimo sitzt eine Gruppe von Personen und lauscht aufmerksam den andinen Klängen einer Musikgruppe, die im Schatten eines kleinen Pavillons spielt. Mirnas Ehemann und ihre beiden Töchter, 10 und 17 Jahre, begrüßen mich herzlich. Kaum hat die Musikgruppe ihr Spiel beendet, ruft mich Mirna zu sich unter den Pavillon. Sie ist eine der Koordinatorinnen der Gemeinde und genießt große Anerkennung unter den Mitgliedern. Nach einigen einführenden Worten überlässt sie mir das Mikrophon.

So stehe ich nun hier, ein Deutscher in Nejapa, und schaue in die erwartungsvollen Gesichter von Menschen die Dinge erlebt haben, die ich mir nicht annähernd vorstellen kann. Nejapa hat schwer gelitten während dem zwölf Jahre andauernden Bürgerkrieg (1980-1992). In den umliegenden Bergen versteckten sich damals die Rebellen. Militärhubschrauber und Bodentruppen durchkämmten die Gegend unermüdlich. In vielen der Dorfbewohner hallen die dumpfen Detonationen von Bomben und Granaten bis heute nach.

Was soll ich diesen Menschen heute erzählen? Wer ist für sie überhaupt dieser Oscar Romero, der sich als Erzbischof von San Salvador radikal für sein unterdrücktes Volk einsetzte und aus diesem Grund am 24. März 1980, während er eine Messe zelebrierte, von einem Sonderkommando des Militärs ermordet wurde.

Ich beschloss diese Fragen mitzunehmen nach Nejapa und die Menschen selbst zu fragen. Das tue ich nun, ganz schlicht und einfach. „Wer ist Monseñor Romero?“, rufe ich, im hier üblichen anfeuernden Tonfall, in die Menge. „Unser Heiliger!“, kommt prompt die Antwort. „Ist er lebendig?“, frage ich zurück. „Ja“, tönt es einstimmig über den Dorfplatz. „Und wo ist er?“, lasse ich nicht locker. „In unseren Herzen!“, antworten die Menschen im Chor als wäre es einstudiert.

Ich stelle mich kurz vor und erkläre was mich als Deutschen Studenten nach El Salvador und in ihr Dorf geführt hat, dass ich hier bin, um zu lernen, um zu verstehen, um zuzuhören. Bald habe ich das Vertrauen der Menschen gewonnen und wir begeben uns gemeinsam auf die Spuren ihres Heiligen.

Für große Teile der Bevölkerung El Salvadors ist Oscar Romero, der von der katholischen Kirche bis heute nicht heilig gesprochen wurde, mehr als ein einfacher Heiliger. Er ist auch heute noch, 34 Jahre nach seiner Ermordung ihr Prophet. Die Verehrung des ehemaligen Erzbischofs ist nicht bloßes Totengedenken. Romero lebt für die Menschen weiter. Er lebt, weil seine Stimme ihnen auch heute noch so viel zu sagen hat, weil er bis heute „die Stimme der Stimmlosen“ ist, wie er es selbst einmal gesagt hat.

Die zwölf Jahre Bürgerkrieg haben etwa 75.000 Menschenleben gefordert. Seit der Unterzeichnung der Friedensverträge jedoch sind in El Salvador über 100.000 weitere Menschen gewaltsam ums Leben gekommen oder verschwunden. Hinzu kommt die zunehmende Ausbeutung durch multinationale Konzerne, die Zerstörung der natürlichen Ressourcen und eine Politik der Lüge und des Schweigens. Das Land kommt nicht zur Ruhe.

„Wenn Monseñor Romero heute zu euch sprechen würde, was würde er euch sagen?“, frage ich meine ZuhörerInnen. „Er würde uns zur Einheit und zur Versöhnung aufrufen“, meint eine junge Frau in der ersten Reihe. Seit dem Krieg ist die Gesellschaft El Salvadors zutiefst gespalten. Politisch in eine extreme Linke und eine extreme Rechte. In mittellose Opfer, Invaliden und Witwen, bis heute ohne öffentliche Anerkennung geschweige denn Entschädigung auf der einen und superreiche Geschäftsleute und Großgrundbesitzer auf der anderen Seite.

Manchmal, ohne es zu wollen, komme ich mir vor wie im wilden Westen, wenn ich die Verflechtungen zwischen Politik, Privatwirtschaft und Drogenhandel sehe, wenn die Rachefeldzüge der beiden rivalisierenden Jugendbanden wieder die Nachrichtenbilder dominieren und im Wahlkampf Drogenbarone mit Cowboyhut die Revolver schwingen und zum bewaffneten Aufstand aufrufen. Es tut weh dies zu sehen. Dieses Land, diese Menschen haben das nicht verdient.

Versöhnung ist das zentrale Thema in El Salvador, insgeheim zumindest. Im öffentlichen Diskurs und im konkreten Handeln der politischen Kräfte ist von Versöhnung keine Rede. Das Parlament hält immer noch an dem 1993 verabschiedeten Amnestiegesetzt fest. Ein Gesetz des Schweigens und des Vergessens, das jeglichen Versuch, die unzähligen Massaker und Menschenrechtsverletzungen aus der Bürgerkriegszeit zur Anklage zu bringen, im Keim erstickt.

Bis heute wissen Tausende Salvadorianer nichts über den Verbleib ihrer Kinder, ihrer Väter, ihrer Schwestern und Brüder. Sie haben keinen Ort an dem sie Blumen niederlegen können. Selbst das Trauern ist ihnen verboten. Konservative Kräfte im Land wehren sich vehement gegen eine Aufarbeitung der Vergangenheit. „Wozu alte Wunden wieder öffnen?“, sagen sie. Auf der anderen Seite stehen die Opferverbände, die Bauern und Arbeiter. Sie entgegnen: „Wie können wir Wunden öffnen wollen, die sich niemals geschlossen haben?“

Ein junger Mann meldet sich zu Wort: „Monseñor Romero würde uns auch daran erinnern, dass wir die Umwelt nicht zerstören sollen, dass wir unsere Flüsse nicht verschmutzen und sorgsam mit unserer Erde umgehen.“ So sprechen wir noch eine Weile über Romero, über El Salvador gestern und heute, über die Welt. Auch aus den angrenzenden Geschäften und von den Parkbänken recken die Leute ihre Hälse zu uns herüber. Die großen Lautsprecher tragen die Worte bis in den letzten Winkel des Dorfes. Zuweilen fühle ich mich wie der Prediger einer der zahllosen Pfingstkirchen hier und muss schmunzeln.

Oscar Romero hatte den Mut, die Ungerechtigkeiten seiner Zeit offen anzuzeigen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Es gibt viele Menschen die in diesem Sinne sein Erbe fortführen und noch heute ist das gefährlich in El Salvador. Aber die Menschen geben nicht auf, sind selbst Propheten, Wahr-Sager. Sie machen weiter im Kleinen wie im Großen und haben Hoffnung. Dafür bewundere ich sie.





¡Que viva!


Am Ende meines kleinen Impulsgesprächs auf dem Dorfplatz von Nejapa kommt eine ältere Frau auf mich zu. Sie blickt mich an und sagt nur: „Danke, dass Sie die Wahrheit sagen. Mir haben sie meine Tochter genommen im Krieg. Das trage ich heute noch in mir.“ Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich nehme sie in den Arm, das ist alles.

Es ist bereits später Nachmittag als sich die Gemeindemitglieder in zwei Reihen auf der Hauptstraße aufstellen. Jugendliche verkaufen selbstgebastelte Windlichter. Mit einer Lichterprozession durch den Ort soll dieser Tag abgeschlossen werden. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung, voraus ein Pkw mit Lautsprechern auf dem Dach aus dem abwechselnd Tonaufnahmen von Monseñor Romero und Hoffnungslieder in bewegten Latino-Rhythmen klingen.

Die kleine Prozession bahnt sich ihren Weg durch die geschäftigen Straßen. Am Samstagabend kommen viele Familien in den Ort zum traditionellen Pupusa-Essen. Andere sitzen auf Stühlen und in Hängematten vor ihren Häusern und unterhalten sich mit den Nachbarn. Wieder nehme ich diese Ruhe, diese Entspanntheit wahr, die ich in der Hauptstadt kaum fühle.

Ein Jugendlicher greift zum Mikrophon. „Schwestern und Brüder, ich muss euch leider mitteilen, dass unsere Schwester Doris ihrer Krankheit erlegen ist und uns heute verlassen hat. Möge sie Frieden finden.“ Die fröhliche Musik wird für einen Augenblick unterbrochen, ohne dass aber die Prozession ins Stocken geriete. Einige Frauen trocknen ihre Tränen.

Von Mirna erfahre ich, dass Doña Doris seit längerem an Diabetes erkrankt war, jedoch keiner mit ihrem plötzlichen Tod gerechnet hatte. Sie war um die vierzig und hinterlässt drei Kinder. Die jüngste Tochter ist sieben. Einen Vater haben sie nicht mehr. Der Zug geht weiter. Die Musik tönt blechern aus den Lautsprechern. Einer ruft: „¡Que viva Monseñor Romero!“. „¡Que viva!“, antwortet die Menge.

Am Ende verabschiede ich mich von Mirnas Familie und Nejapa. Ich muss zurück nach San Salvador. Es war ein schöner Nachmittag in diesem magischen Örtchen und ich verspreche bald wieder zu kommen.

Einmal mehr erfahre ich, wie nahe hier in El Salvador Leben und Tod beieinander liegen, sich gegenseitig bedingen. Ich bekomme eine Ahnung vom Leben der Menschen hier, das trotz der Verluste, des Schmerzes und der Aussichtslosigkeit Leben ist und das dank Menschen wie Oscar Romero, die Hoffnung spenden, zum Leben in Fülle wird.

Pupusas, das Nationalgericht El Salvadors

Die Prozession setzt sich in Bewegung

Junge und Alte sind heute auf der Straße

"Wenn sie mich töten werde ich im salvadorianischen Volk auferstehen." (Oscar A. Romero)