„¡Que
viva Monseñor Romero!“ (Hoch lebe Erzbischof Romero!), ruft Mirna mit
energischer Stimme. Sie ist eine korpulente Frau schätzungsweise Anfang
vierzig, Rechtsanwältin bei der nationalen Polizeibehörde. „¡Que viva!“, antworten etwa 50 Männer und Frauen, Junge und Alte
die sich an diesem Samstagnachmittag auf dem Dorfplatz von Nejapa vor der
Kirche San Gerónimo versammelt haben. Mirna tritt einen Schritt zur Seite,
überlässt mir das Mikrophon. Die Zuhörerinnen und Zuhörer schauen mich erwartungsvoll
an. Wie komme ich hierher?
Mirna studiert mit mir zusammen den
Master in lateinamerikanischer Theologie an der UCA. Vor etwa zwei Wochen
sprach sie mich an und fragte ob ich bereit wäre an diesem Samstag ihre
Gemeinde zu besuchen, um einen Vortrag über Oscar Romero zu halten, anlässlich
des 34. Jahrestages seiner Ermordung. Ich stutzte zunächst.
Was sollte ein Deutscher, der gerade
seit einem guten Jahr in El Salvador lebt und 1980 noch nicht einmal geboren
war, den Salvadorianern über ihren ehemaligen Erzbischof und Volksheiligen
erzählen können? „Nein, nein!“, lenkte Mirna ein. „Es geht mehr darum, dass du
von deiner eigenen Erfahrung erzählst, dass die Leute verstehen können, was
dich dazu bewegt hat, von so weit her zu uns zu kommen und unsere Geschichte zu
studieren.“
Wasser für alle?
Ich ließ mich schließlich überzeugen und willigte ein. Am jenem Samstagnachmittag treffe ich Mirna in der Nähe des Regierungsviertels von San Salvador, von wo aus wir uns mit ihrem Auto auf den Weg nach Nejapa machen. Die Fahrt dauert eine gute halbe Stunde. Wir lassen die verstopften Straßen der Hauptstadt hinter uns, die Abgase, die Betonwüste, die die nachmittägliche Hitze unerträglich macht.
Bald fahren wir vorbei an grünen Fincas, die Landstraße gesäumt von Mangobäumen, Ceiba, Bananenpalmen und Marañón. Die Luft ist wie ausgewechselt. Ein angenehmer Wind weht durch das offene Fenster. Ich hole tief Atem.
„Unter uns befindet sich eines der
größten Süßwasserreservoirs von El Salvador, deshalb ist es hier so grün“,
erklärt mir Mirna. „Fast die ganze Hauptstadt wird aus diesem riesigen
Grundwasservorkommen versorgt. Aber das bringt uns hier wenig. Seit ein paar
Jahren haben es die großen Konzerne auf unser Wasser abgesehen.“ Ich schaue sie
ungläubig an. Doch wie aus dem Nichts tauchen am Straßenrand riesige
Industrieanlagen auf.
Agua Cristal, eine Tochtergesellschaft
von der Coca-Cola Company hat hier seine Produktionsstätte. Der multinationale
Konzern hat ein Quasimonopol auf dem salvadorianischen Trinkwassermarkt. Keiner
weiß genau wieviel Grundwasser die Firma Tag für Tag aus der Erde saugt,
filtert und in Plastikflaschen abfüllt.
Dieser massive Eingriff in den
Wasserkreislauf bleibt nicht ohne folgen für Mensch und Natur. Der Rio San
Antonio, ein kleiner Fluß aus dem die Menschen seit Jahrhunderten Wasser schöpfen,
in dem sie baden und ihre Wäsche waschen, ist von Abwässern und Industriegiften
verseucht. Die Häuser vieler Anwohner haben nur stundenweise fließendes Wasser,
weil der Druck auf der Leitung nicht mehr ausreicht. Vielen bleibt nichts
anderes übrig als Agua Cristal zu kaufen.
Eine Literflasche Agua Cristal kostet
etwa 75 cent. Die Firma zahlt 44 US$ Gewerbesteuer im Monat. Das ist alles.
Agua Cristal ist jedoch nicht der einzige, der die Erde unter Nejapa aussaugt.
Direkt nebenan steht Jumex, ein mexikanischer Fruchtsaftfabrikant und der
größte Brauereibetrieb des Landes plant die Eröffnung eines Standpunktes in der
Zone.
Romero, Prophet und Volksheiliger
Als wir von der Landstraße abbiegen in eine ruhige und schattige Allee bin ich noch immer sprachlos. Wir erreichen Nejapa etwa um halb fünf. Der Ort besteht aus kaum mehr als einer Haupt- und einigen Seitenstraßen und liegt idyllisch am Fuße des Vulkans von San Salvador. Aus der Hauptstadt kommend ist es als würde ich in eine andere Welt eintauchen. Die Luft ist angenehm frisch, die Menschen lächeln freundlich, alles scheint hier ein bisschen langsamer zu gehen und der Ort strahlt eine geheimnisvolle Ruhe aus.
Wir lassen das Auto nahe dem Dorfplatz
stehen und Mirna bedeutet mir ihr zu folgen. Der Platz ist bevölkert von
spielenden Kindern, plaudernden Rentnern, Männern und Frauen die kleine Snacks
und Getränke verkaufen, andere die kaufen. An den schattigen Park grenzen
kleine Läden, Friseurgeschäfte, Restaurants, das Rathaus, die Bank, überall gehen
Menschen ein und aus. Hier scheint sich das öffentliche Leben von Nejapa
abzuspielen.
Auf der gesperrten Hauptstraße vor der
Kirche San Gerónimo sitzt eine Gruppe von Personen und lauscht aufmerksam den
andinen Klängen einer Musikgruppe, die im Schatten eines kleinen Pavillons
spielt. Mirnas Ehemann und ihre beiden Töchter, 10 und 17 Jahre, begrüßen mich
herzlich. Kaum hat die Musikgruppe ihr Spiel beendet, ruft mich Mirna zu sich
unter den Pavillon. Sie ist eine der Koordinatorinnen der Gemeinde und genießt
große Anerkennung unter den Mitgliedern. Nach einigen einführenden Worten
überlässt sie mir das Mikrophon.
So stehe ich nun hier, ein Deutscher in
Nejapa, und schaue in die erwartungsvollen Gesichter von Menschen die Dinge erlebt
haben, die ich mir nicht annähernd vorstellen kann. Nejapa hat schwer gelitten
während dem zwölf Jahre andauernden Bürgerkrieg (1980-1992). In den umliegenden
Bergen versteckten sich damals die Rebellen. Militärhubschrauber und
Bodentruppen durchkämmten die Gegend unermüdlich. In vielen der Dorfbewohner
hallen die dumpfen Detonationen von Bomben und Granaten bis heute nach.
Was soll ich diesen Menschen heute
erzählen? Wer ist für sie überhaupt dieser Oscar Romero, der sich als
Erzbischof von San Salvador radikal für sein unterdrücktes Volk einsetzte und
aus diesem Grund am 24. März 1980, während er eine Messe zelebrierte, von einem
Sonderkommando des Militärs ermordet wurde.
Ich beschloss diese Fragen mitzunehmen
nach Nejapa und die Menschen selbst zu fragen. Das tue ich nun, ganz schlicht
und einfach. „Wer ist Monseñor Romero?“, rufe ich, im hier üblichen anfeuernden
Tonfall, in die Menge. „Unser Heiliger!“, kommt prompt die Antwort. „Ist er
lebendig?“, frage ich zurück. „Ja“, tönt es einstimmig über den Dorfplatz. „Und
wo ist er?“, lasse ich nicht locker. „In unseren Herzen!“, antworten die
Menschen im Chor als wäre es einstudiert.
Ich stelle mich kurz vor und erkläre was
mich als Deutschen Studenten nach El Salvador und in ihr Dorf geführt hat, dass
ich hier bin, um zu lernen, um zu verstehen, um zuzuhören. Bald habe ich das
Vertrauen der Menschen gewonnen und wir begeben uns gemeinsam auf die Spuren
ihres Heiligen.
Für große Teile der Bevölkerung El
Salvadors ist Oscar Romero, der von der katholischen Kirche bis heute nicht heilig
gesprochen wurde, mehr als ein einfacher Heiliger. Er ist auch heute noch, 34
Jahre nach seiner Ermordung ihr Prophet. Die Verehrung des ehemaligen
Erzbischofs ist nicht bloßes Totengedenken. Romero lebt für die Menschen weiter.
Er lebt, weil seine Stimme ihnen auch heute noch so viel zu sagen hat, weil er
bis heute „die Stimme der Stimmlosen“ ist, wie er es selbst einmal gesagt hat.
Die zwölf Jahre Bürgerkrieg haben etwa
75.000 Menschenleben gefordert. Seit der Unterzeichnung der Friedensverträge jedoch
sind in El Salvador über 100.000 weitere Menschen gewaltsam ums Leben gekommen
oder verschwunden. Hinzu kommt die zunehmende Ausbeutung durch multinationale
Konzerne, die Zerstörung der natürlichen Ressourcen und eine Politik der Lüge
und des Schweigens. Das Land kommt nicht zur Ruhe.
„Wenn Monseñor Romero heute zu euch
sprechen würde, was würde er euch sagen?“, frage ich meine ZuhörerInnen. „Er
würde uns zur Einheit und zur Versöhnung aufrufen“, meint eine junge Frau in
der ersten Reihe. Seit dem Krieg ist die Gesellschaft El Salvadors zutiefst
gespalten. Politisch in eine extreme Linke und eine extreme Rechte. In
mittellose Opfer, Invaliden und Witwen, bis heute ohne öffentliche Anerkennung
geschweige denn Entschädigung auf der einen und superreiche Geschäftsleute und Großgrundbesitzer
auf der anderen Seite.
Manchmal, ohne es zu wollen, komme ich
mir vor wie im wilden Westen, wenn ich die Verflechtungen zwischen Politik,
Privatwirtschaft und Drogenhandel sehe, wenn die Rachefeldzüge der beiden
rivalisierenden Jugendbanden wieder die Nachrichtenbilder dominieren und im
Wahlkampf Drogenbarone mit Cowboyhut die Revolver schwingen und zum bewaffneten
Aufstand aufrufen. Es tut weh dies zu sehen. Dieses Land, diese Menschen haben
das nicht verdient.
Versöhnung ist das zentrale Thema in El
Salvador, insgeheim zumindest. Im öffentlichen Diskurs und im konkreten Handeln
der politischen Kräfte ist von Versöhnung keine Rede. Das Parlament hält immer
noch an dem 1993 verabschiedeten Amnestiegesetzt fest. Ein Gesetz des Schweigens
und des Vergessens, das jeglichen Versuch, die unzähligen Massaker und
Menschenrechtsverletzungen aus der Bürgerkriegszeit zur Anklage zu bringen, im
Keim erstickt.
Bis heute wissen Tausende Salvadorianer
nichts über den Verbleib ihrer Kinder, ihrer Väter, ihrer Schwestern und
Brüder. Sie haben keinen Ort an dem sie Blumen niederlegen können. Selbst das
Trauern ist ihnen verboten. Konservative Kräfte im Land wehren sich vehement
gegen eine Aufarbeitung der Vergangenheit. „Wozu alte Wunden wieder öffnen?“,
sagen sie. Auf der anderen Seite stehen die Opferverbände, die Bauern und
Arbeiter. Sie entgegnen: „Wie können wir Wunden öffnen wollen, die sich niemals
geschlossen haben?“
Ein junger Mann meldet sich zu Wort: „Monseñor
Romero würde uns auch daran erinnern, dass wir die Umwelt nicht zerstören
sollen, dass wir unsere Flüsse nicht verschmutzen und sorgsam mit unserer Erde
umgehen.“ So sprechen wir noch eine Weile über Romero, über El Salvador gestern
und heute, über die Welt. Auch aus den angrenzenden Geschäften und von den
Parkbänken recken die Leute ihre Hälse zu uns herüber. Die großen Lautsprecher
tragen die Worte bis in den letzten Winkel des Dorfes. Zuweilen fühle ich mich
wie der Prediger einer der zahllosen Pfingstkirchen hier und muss schmunzeln.
Oscar Romero hatte den Mut, die
Ungerechtigkeiten seiner Zeit offen anzuzeigen, ohne ein Blatt vor den Mund zu
nehmen. Es gibt viele Menschen die in diesem Sinne sein Erbe fortführen und
noch heute ist das gefährlich in El Salvador. Aber die Menschen geben nicht
auf, sind selbst Propheten, Wahr-Sager. Sie machen weiter im Kleinen wie im Großen
und haben Hoffnung. Dafür bewundere ich sie.
¡Que viva!
Am Ende meines kleinen Impulsgesprächs auf dem Dorfplatz von Nejapa kommt eine ältere Frau auf mich zu. Sie blickt mich an und sagt nur: „Danke, dass Sie die Wahrheit sagen. Mir haben sie meine Tochter genommen im Krieg. Das trage ich heute noch in mir.“ Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich nehme sie in den Arm, das ist alles.
Es ist bereits später Nachmittag als
sich die Gemeindemitglieder in zwei Reihen auf der Hauptstraße aufstellen. Jugendliche
verkaufen selbstgebastelte Windlichter. Mit einer Lichterprozession durch den
Ort soll dieser Tag abgeschlossen werden. Der Zug setzt sich langsam in
Bewegung, voraus ein Pkw mit Lautsprechern auf dem Dach aus dem abwechselnd
Tonaufnahmen von Monseñor Romero und Hoffnungslieder in bewegten Latino-Rhythmen
klingen.
Die kleine Prozession bahnt sich ihren
Weg durch die geschäftigen Straßen. Am Samstagabend kommen viele Familien in
den Ort zum traditionellen Pupusa-Essen. Andere sitzen auf Stühlen und in Hängematten
vor ihren Häusern und unterhalten sich mit den Nachbarn. Wieder nehme ich diese
Ruhe, diese Entspanntheit wahr, die ich in der Hauptstadt kaum fühle.
Ein Jugendlicher greift zum Mikrophon. „Schwestern
und Brüder, ich muss euch leider mitteilen, dass unsere Schwester Doris ihrer
Krankheit erlegen ist und uns heute verlassen hat. Möge sie Frieden finden.“
Die fröhliche Musik wird für einen Augenblick unterbrochen, ohne dass aber die
Prozession ins Stocken geriete. Einige Frauen trocknen ihre Tränen.
Von Mirna erfahre ich, dass Doña Doris
seit längerem an Diabetes erkrankt war, jedoch keiner mit ihrem plötzlichen Tod
gerechnet hatte. Sie war um die vierzig und hinterlässt drei Kinder. Die jüngste
Tochter ist sieben. Einen Vater haben sie nicht mehr. Der Zug geht weiter. Die Musik
tönt blechern aus den Lautsprechern. Einer ruft: „¡Que viva Monseñor
Romero!“. „¡Que viva!“, antwortet die Menge.
Am Ende verabschiede ich mich von Mirnas
Familie und Nejapa. Ich muss zurück nach San Salvador. Es war ein schöner Nachmittag
in diesem magischen Örtchen und ich verspreche bald wieder zu kommen.
Einmal mehr erfahre ich, wie nahe hier
in El Salvador Leben und Tod beieinander liegen, sich gegenseitig bedingen. Ich
bekomme eine Ahnung vom Leben der Menschen hier, das trotz der Verluste, des
Schmerzes und der Aussichtslosigkeit Leben ist und das dank Menschen wie Oscar
Romero, die Hoffnung spenden, zum Leben in Fülle wird.
Pupusas, das Nationalgericht El Salvadors |
Die Prozession setzt sich in Bewegung |
Junge und Alte sind heute auf der Straße |
"Wenn sie mich töten werde ich im salvadorianischen Volk auferstehen." (Oscar A. Romero) |