Im Rhythmus einer alten Blechtrommel und
laut johlend und singend schiebt sich eine Karawane aus farbenfroh geschminkten
und verkleideten Kindern und Jugendlichen durch die enge Hauptstraße der
Elendssiedlung ‚Las Palmas‘ im Herzen San Salvadors. Der Alltag scheint für
einen Moment still zu stehen. Der Tortilla-Teig wird zur Seite
gelegt, das Nickerchen unterbrochen. Alt und Jung säumt die Straße, lehnt sich
aus den Fenstern, um die Ursache des Tumults zu erfahren.
El Salvador ist das kleinste Land
Mittelamerikas. Unbekannt ist es auf der Weltbühne dennoch nicht. Wenn im
Ausland von El Salvador die Rede ist, dann meist im Zusammenhang mit dem
grausamen Bürgerkrieg der 1980er Jahre, gewalttätigen Straßengangs,
skrupellosen Drogenkartellen und einer der höchsten Mordraten der Welt. All das
kommt nicht von ungefähr. Noch heute sind unzählige Kriegsverbrechen von damals
nicht aufgeklärt, unzählige Wunden in der Bevölkerung unverheilt.
Die
vergangenen Jahre haben statt Frieden und Entwicklung neue Wunden geschlagen.
Der blutige Konflikt zwischen den beiden berüchtigten und international
agierenden Jugendbanden ‚Mara Salvatrucha‘ und ‚Barrio 18‘ hat sich längst auf
die vor allem arme Zivilbevölkerung ausgeweitet und ganze Stadtviertel in
Kriegsschauplätze verwandelt. Die neue Gewaltwelle in El Salvador hat allein in
diesem Jahr bereits über 2500 Menschenleben gefordert.
Tausende Menschen leben
im permanenten Ausnahmezustand. Ununterbrochen werden Wohnungen geräumt,
Geschäfte geschlossen. Tagtäglich verlassen offiziellen Schätzungen zufolge
etwa 500 Salvadorianer das Land, die meisten von ihnen in Richtung USA.
Nichts scheint weiter entfernt als in
dieser Situation von kollektiver Angst, Wut und Verzweiflung Clowns und
Zirkuskünstler zu beschwören. Doch der Schein trügt. ‚Las Palmas‘ ist an diesem
Samstagnachmittag Schauplatz eines außergewöhnlichen Spektakels.
Wenige Minuten
später erreicht der kleine, bunte Umzug eine Straßenkreuzung und nimmt diese
umgehend in Beschlag. Aus einem Lautsprecher tönt laut Zirkusmusik und schon
beginnen bunte Jonglierbälle und Keulen durch die Luft zu fliegen. Das Publikum
lässt nicht auf sich warten. Die Nachricht vom Zirkus hat sich wie ein
Lauffeuer verbreitet in ‚Las Palmas‘. Im Handumdrehen ist die Straße voller Menschen. Da sind grölende und sich vor Lachen kringelnde Kinder, vergnügte Senioren und
der eine oder andere, der aus reiner Neugier gekommen ist und einfach nicht
glauben kann was da geschieht.
‚Las Palmas‘: Leben im Abseits
‚Las Palmas‘ ist nicht irgendein
Stadtviertel von San Salvador. Es ist ein besonderes und hat darum auch eine
besondere Geschichte. Anfang des vergangenen Jahrhunderts, zur Zeit des
Kaffee-Booms in El Salvador, siedelten sich hier am Fuß des Vulkans die
Familien der Plantagenarbeiter an. Von früh bis spät schufteten ganze Familien
auf den umliegenden Haciendas der Großgrundbesitzer, pflanzten, düngten,
stutzten und ernteten Kaffee für einen
Hungerlohn.
Jahrzehnte später ist der Wald ist gerodet, die Kaffeeplantagen
verschwunden, die Menschen von ‚Las Palmas‘ aber sind geblieben und mit ihnen
ihre arbeitsamen Hände. Heute befindet sich das Viertel inmitten eines der
exklusivsten Geschäftsbezirke der Hauptstadt und ist umrundet von hohen
Luxushotels. Besser geht es den Bewohnern von ‚Las Palmas‘ trotzdem nicht.
Viele von ihnen arbeiten heute im informellen Sektor als Verkäufer im
Stadtzentrum oder als Schichtarbeiter in den ‚Maquilas‘, den Textilfabriken, wo
sie unter sklavenähnlichen Verhältnissen Kleidung für den Exportmarkt
herstellen.
Eine hohe Mauer trennt die einstige
Plantagenarbeitersiedlung von den pompösen Villen und gläsernen Bürotürmen in
der Nachbarschaft. Draußen allradbetriebene Geländewagen und Luxuslimousinen
und drinnen Handkarren und klapperige Rostbeulen. Heute leben etwa 1000 Familien in ‚Las Palmas‘, insgesamt
knapp 8000 Personen.
Der Raum ist begrenzt. Freier Baugrund ist nicht
vorhanden. So sind die Häuser über die Jahre hinweg immer enger
zusammengewachsen und mehr und mehr Menschen teilen sich die kleinen zwei- bis
dreistöckigen Behausungen. Die schmalen
Straßen und engen Gässchen schaffen das Flair einer mittelalterlichen Altstadt.
Wäscheleinen, gackernde Hühner und Straßenhändler geben dem Viertel einen
regelrecht idyllischen Anstrich.
Die engen Gassen geben dem Viertel ein besonderes Flair, doch der Schein trügt |
Die Kinder von Las Palmas blicken in eine ungewisse Zukunft |
Die Dächer von Las Palmas |
Eine hohe Mauer mit Stacheldraht trennt das Viertel von einer Luxuswohngegend |
Im Schatten der ‚Mara‘
Die nüchterne Realität lässt sich in
‚Las Palmas‘ jedoch kaum verbergen. Die anhaltende wirtschaftliche Armut, die
Enge, der Mangel an Wohnraum und Freiflächen, der himmelschreiende Kontrast zur
Nachbarschaft und die systematische Vernachlässigung durch die öffentliche Hand
haben ihre Spuren im Viertel hinterlassen. Das ‚Barrio 18‘, die blutrünstigste
der salvadorianischen Straßengangs oder ‚Maras‘ hat Las Palmas fest im Griff.
Viele Jugendliche haben in der mafiaähnlichen Organisation über die Jahre
hinweg Schutz, Geborgenheit und Anerkennung gefunden. Die Gang ist ihre neue
Familie geworden. Mit Schutzgelderpressungen, Drogenhandel und Raubüberfällen
sichert sich die Bande das Auskommen und schaltet mit bestialischer Gewalt ihre
Gegner aus. In Las Palmas bestimmen die ‚Mareros‘, wie die Bandenmitglieder
hier genannt werden, wer rein und raus darf. Sie sind überall, sehen alles,
wissen alles.
Die Menschen in Las Palmas leben permanent im Schatten der ‚Mara‘.
Auch wenn sie theoretisch deren Schutz genießen, können sie selten ruhig
schlafen. Wer den wöchentlichen Schutzzoll nicht bezahlen kann oder der ‚Mara‘ sonstige Gefallen verweigert
bezahlt den Ungehorsam leicht mit dem Leben.
„Das Absurde an alledem ist, dass
die ‚Maras‘ ihre eigenen Leute terrorisieren“, erklärt mir Omar, ein
Jugendlicher, der San Salvador aufgrund von Morddrohungen verlassen musste. Es
sind zumeist die Armen selbst, die auf den Straßen sterben, während man in den
gutbewachten Residenzvierteln das grausame Geschehen, wenn überhaupt, nur in
den Abendnachrichten verfolgt.
Die Antwort des Staates auf das Problem
trägt Kampfanzüge und Sturmmasken und versucht mit schwerer Kriegsbewaffnung
der Lage Herr zu werden. Man scheint, trotz der Lektionen aus der jüngsten
Geschichte, noch immer nicht begriffen zu haben, dass Gewalt nur noch mehr
Gewalt erzeugt. Die großangelegten Polizei- und Militäreinsätze treffen häufig
auch Unschuldige.
In ‚Las Palmas‘ waren dies vergangenen Monat der
einundzwanzigjährige Alvin und drei weitere Jugendliche, die sich zur falschen
Zeit am falschen Ort aufhielten. Alvin stand an jenem Abend unter der offenen
Haustüre und telefonierte mit seiner Freundin als ihn ein Sondereinsatzkommando
der Polizei überraschte, die Beamten ihn brutal zu Boden schlugen und ihm
Handschellen anlegten.
Gemeinsam mit drei Nachbarsjungen muss er sich nun als
Bandenmitglied vor Gericht verantworten. Die Anklage lautet: unerlaubter Besitz
und Führen von Kriegswaffen. In den Zeitungen war zu lesen, die Jugendlichen
hätten auf dem Bolzplatz des Viertels Militärübungen mit Maschinengewehren
durchgeführt und wären gefährliche Kriminelle.
Alvins Familie, Nachbarn, Freunde und
Mitglieder der Kirchengemeinde, die der Junge regelmäßig besuchte, versichern
Alvin sei kein Verbrecher. Er studierte an der Universität, arbeitete als
Kellner in einem Restaurant und spielte für sein Leben gern Fußball im FC Roma,
der Mannschaft des Nachbarviertels. Was war also geschehen?
Die Situation der Menschenrechte ist kritisch
Das renommierte
Menschenrechtsinstitut der Zentralamerikanischen Universität von San Salvador (UCA)
begleitet den Fall und leistet Alvins Familie Rechtsbeistand. Luis Monterrosa,
der Direktor des Instituts war selbst bei der ersten Anhörung zugegen und
bestätigt im Interview, dass laut Indizienlage die Jugendlichen keinerlei
kriminellen Hintergrund aufwiesen und höchstwahrscheinlich Opfer staatlicher und
medialer Willkür seien.
Laut Monterrosa sei dies einerseits auf die nach wie
vor mächtigen Militärs und die korrupte Polizeibehörde zurückzuführen, die
Erfolgsgeschichten brauchten um ihren repressiven Kurs politisch zu
rechtfertigen. Andererseits sei in den letzten Monaten zu beobachten, wie die
großen Medienkonzerne die neue Gewaltwelle in El Salvador ausnutzten und zu
einer erhöhten Verunsicherung in der Bevölkerung beitrügen.
Hinter diesen
beiden Tendenzen stehen, so Monterrosa, „mächtige Sektoren der Gesellschaft,
bestehend aus Teilen der politischen Opposition, den alten Eliten aus
Bürgerkriegszeiten und einflussreichen Unternehmerfamilien, die der
demokratisch gewählten, linksorientierten Regierung um jeden Preis die
Glaubwürdigkeit entziehen wollen“. Es sind große Namen. Namen die jeder kennt
und die dennoch keiner nennt. Ihre rechtsradikalen Parolen und repressiven
Methoden beginnen wieder auf mehr Echo in der salvadorianischen Gesellschaft zu
stoßen.
Die Menschen in El Salvador haben genug
von Gewalt und Terror. Rufe nach der Wiedereinführung der Todesstrafe werden
laut. Vermummte Killerkommandos üben immer häufiger Selbstjustiz in
Problembezirken. Trotz der Brisanz der Lage hat die seit Juni dieses Jahres
amtierende neue Regierung bislang keinerlei Handlungsstrategie präsentiert, wie
sie mit dem Problem umgehen will.
Luis Monterrosa ist besorgt über die
aktuellen Entwicklungen sowohl im Fall Alvin als auch auf nationaler Ebene.
„Die anhaltende Gewaltwelle in El Salvador ist nicht schlicht auf kriminelle
Delikte zu reduzieren, sondern ist Symptom eines tieferliegenden sozialen
Problems. Finanzielle Armut und gesellschaftliche Exklusion spielen hier eine
zentrale Rolle. Wir müssen den sozialen und strukturellen Charakter des
Problems endlich erkennen und Lösungen finden. Was wir brauchen ist nicht die
harte Hand, sondern einen gesamtgesellschaftlichen Dialogprozess und
nachhaltige und koordinierte Präventionsarbeit“, fordert Menschenrechtler
Monterrosa.
Alvin sitzt derweil auf dem Revier
Monserrat in Untersuchungshaft. Er ist nur einer von vielen salvadorianischen
Jugendlichen deren einziges Verbrechen es ist arm zu sein. Der nächste
Verhandlungstag ist in voraussichtlich sechs Monaten und sollte Alvin für
schuldig befunden werden, drohen ihm rund 8 Jahre Haft.
Zirkus für den Frieden
Als an diesem Samstagnachmittag
Pappnasen und Lachsalven das Zentrum von ‚Las Palmas‘ fest im Griff haben ist
von Polizeigewalt, Verbrecherbanden und Medienrummel keine Spur. Die Stimmung
ist gelöst, heiter und selbst die aufziehenden Gewitterwolken treten
unverrichteter Dinge den Abzug an.
Der Zirkus von Las Palmas ist kein
gewöhnlicher Zirkus. Er hat kein Zirkuszelt, keinen Direktor, keine
Weltsensationen. Es ist Zirkus der Straße, ein Zirkus auf dem Weg. Seine Clowns
und Artisten sind Jungen und Mädchen aus dem Viertel ‚Las Palmas‘, die bis vor
einem Jahr noch nie einen Jonglierball in der Hand oder gar ein Clown Kostüm
anhatten.
‚Las Palmas‘ hat keine gute Presse. Wenn das Viertel in den
Nachrichten ist, dann in Verbindung mit Drogenrazzien und Mordfällen, wie der
Fall von Alvin und seinen Freunden zeigt. Dies schlägt sich auch im
Selbstwertgefühl der Bewohner nieder. Alles „Eigene“ ist hier schlecht. Man
orientiert sich nach draußen um zu überleben, man muss raus aus dem Viertel, um
jemand werden zu können.
Der Zirkus von Las Palmas beweist auf spielerisch
einfache Weise das Gegenteil. „Hier im Zirkus können wir gemeinsam entdecken
und zeigen was wir können und, dass wir sehr wohl wer sind“, schwärmt
Zirkusmitbegründer Francisco Bosch im Interview. Vor etwa neun Monaten hat der
junge Argentinier und Anwohner von Las Palmas gemeinsam mit Freunden das
Projekt ins Leben gerufen.
Seitdem übt die bunte Truppe regelmäßig auf dem
Pausenhof der Quartiersschule. Jeder kann mitmachen. „Wir fangen mit drei
Jonglierbällen an und lernen Stück für Stück dazu. Wer etwas Neues kann, bringt
es den Anderen bei und so lernen wir gegenseitig voneinander und haben vor
allem viel Spaß.“
Die Jugendlichen haben nicht das Ziel
möglichst professionell oder berühmt zu werden. Kern der Zirkusphilosophie ist
es vielmehr gemeinsam zu lernen und zu wachsen. Die öffentlichen Aufführungen
sind dennoch wichtig. Sie stärken einerseits das Selbstvertrauen der jungen
Artistinnen und Artisten, und zeigen dem Publikum, dass in Las Palmas nicht nur
Nichtsnutze und Kriminelle leben, sondern auch echte Künstler.
Bosch betont,
dass er den Zirkus nicht in erster Linie als Projekt zur Gewaltprävention
sieht. „Wenn man von Prävention spricht, legt man den Fokus wieder auf die
Gewalt“, erklärt er. „Zirkus hingegen heißt Körperkontakt, Spiel, Begegnung mit
dem Anderen. So, glauben wir, fängt Friede an und am Ende besiegen wir damit
tatsächlich die Gewalt, auch wenn das nicht unser vordergründiges Ziel ist.“
„Was wir versuchen“, fügt er hinzu, “sicher nicht ohne Hindernisse und
Irrungen, ist es mit der Kunst Wege zu eröffnen und Alternativen zur
alltäglichen Gewalt zu leben“.
Als an diesem frühen Samstagabend die
letzte Keule gekonnt in die Hand ihres Jongleurs gefallen ist, und der tosende
Beifall und die Bravorufe verstummt sind, gehen die Menschen von ‚Las Palmas‘
mit einem Lächeln nach Hause. Das Joch der Gewalt drückt weiterhin schwer auf
El Salvador. Daran können auch Initiativen wie der Jugendzirkus wenig ändern.
Politische Maßnahmen und ein gesamtgesellschaftlicher Dialogprozess sind
unumgänglich auf dem Weg zum sozialen Frieden in dem vom Bürgerkrieg gezeichneten mittelamerikanischen
Land. Was die Jugendlichen aus dem Elendsviertel im Herzen San Salvadors jedoch
können und auf großartige Weise tun, ist es ihrem Land zu zeigen, dass seine
Jugend nicht verloren ist, dass die junge Generation bereit ist an einer neuen,
anderen Gesellschaft mitzubauen, und, dass drei Jonglierbälle nur der Anfang
sind.
Drei Bälle für einen neue Welt |
Die Truppe vom Circo de Las Palmas |