Samstag, 18. Oktober 2014

Von Zirkusclowns und Sturmkommandos

Im Rhythmus einer alten Blechtrommel und laut johlend und singend schiebt sich eine Karawane aus farbenfroh geschminkten und verkleideten Kindern und Jugendlichen durch die enge Hauptstraße der Elendssiedlung ‚Las Palmas‘ im Herzen San Salvadors. Der Alltag scheint für einen Moment still zu stehen. Der Tortilla-Teig wird zur Seite gelegt, das Nickerchen unterbrochen. Alt und Jung säumt die Straße, lehnt sich aus den Fenstern, um die Ursache des Tumults zu erfahren.

El Salvador ist das kleinste Land Mittelamerikas. Unbekannt ist es auf der Weltbühne dennoch nicht. Wenn im Ausland von El Salvador die Rede ist, dann meist im Zusammenhang mit dem grausamen Bürgerkrieg der 1980er Jahre, gewalttätigen Straßengangs, skrupellosen Drogenkartellen und einer der höchsten Mordraten der Welt. All das kommt nicht von ungefähr. Noch heute sind unzählige Kriegsverbrechen von damals nicht aufgeklärt, unzählige Wunden in der Bevölkerung unverheilt. 

Die vergangenen Jahre haben statt Frieden und Entwicklung neue Wunden geschlagen. Der blutige Konflikt zwischen den beiden berüchtigten und international agierenden Jugendbanden ‚Mara Salvatrucha‘ und ‚Barrio 18‘ hat sich längst auf die vor allem arme Zivilbevölkerung ausgeweitet und ganze Stadtviertel in Kriegsschauplätze verwandelt. Die neue Gewaltwelle in El Salvador hat allein in diesem Jahr bereits über 2500 Menschenleben gefordert. 

Tausende Menschen leben im permanenten Ausnahmezustand. Ununterbrochen werden Wohnungen geräumt, Geschäfte geschlossen. Tagtäglich verlassen offiziellen Schätzungen zufolge etwa 500 Salvadorianer das Land, die meisten von ihnen in Richtung USA.

Nichts scheint weiter entfernt als in dieser Situation von kollektiver Angst, Wut und Verzweiflung Clowns und Zirkuskünstler zu beschwören. Doch der Schein trügt. ‚Las Palmas‘ ist an diesem Samstagnachmittag Schauplatz eines außergewöhnlichen Spektakels. 

Wenige Minuten später erreicht der kleine, bunte Umzug eine Straßenkreuzung und nimmt diese umgehend in Beschlag. Aus einem Lautsprecher tönt laut Zirkusmusik und schon beginnen bunte Jonglierbälle und Keulen durch die Luft zu fliegen. Das Publikum lässt nicht auf sich warten. Die Nachricht vom Zirkus hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet in ‚Las Palmas‘. Im Handumdrehen ist die Straße voller Menschen. Da sind grölende und sich vor Lachen kringelnde Kinder, vergnügte Senioren und der eine oder andere, der aus reiner Neugier gekommen ist und einfach nicht glauben kann was da geschieht.


‚Las Palmas‘: Leben im Abseits

‚Las Palmas‘ ist nicht irgendein Stadtviertel von San Salvador. Es ist ein besonderes und hat darum auch eine besondere Geschichte. Anfang des vergangenen Jahrhunderts, zur Zeit des Kaffee-Booms in El Salvador, siedelten sich hier am Fuß des Vulkans die Familien der Plantagenarbeiter an. Von früh bis spät schufteten ganze Familien auf den umliegenden Haciendas der Großgrundbesitzer, pflanzten, düngten, stutzten und  ernteten Kaffee für einen Hungerlohn. 

Jahrzehnte später ist der Wald ist gerodet, die Kaffeeplantagen verschwunden, die Menschen von ‚Las Palmas‘ aber sind geblieben und mit ihnen ihre arbeitsamen Hände. Heute befindet sich das Viertel inmitten eines der exklusivsten Geschäftsbezirke der Hauptstadt und ist umrundet von hohen Luxushotels. Besser geht es den Bewohnern von ‚Las Palmas‘ trotzdem nicht. Viele von ihnen arbeiten heute im informellen Sektor als Verkäufer im Stadtzentrum oder als Schichtarbeiter in den ‚Maquilas‘, den Textilfabriken, wo sie unter sklavenähnlichen Verhältnissen Kleidung für den Exportmarkt herstellen.

Eine hohe Mauer trennt die einstige Plantagenarbeitersiedlung von den pompösen Villen und gläsernen Bürotürmen in der Nachbarschaft. Draußen allradbetriebene Geländewagen und Luxuslimousinen und drinnen Handkarren und klapperige Rostbeulen. Heute leben  etwa 1000 Familien in ‚Las Palmas‘, insgesamt knapp 8000 Personen. 

Der Raum ist begrenzt. Freier Baugrund ist nicht vorhanden. So sind die Häuser über die Jahre hinweg immer enger zusammengewachsen und mehr und mehr Menschen teilen sich die kleinen zwei- bis dreistöckigen  Behausungen. Die schmalen Straßen und engen Gässchen schaffen das Flair einer mittelalterlichen Altstadt. Wäscheleinen, gackernde Hühner und Straßenhändler geben dem Viertel einen regelrecht idyllischen Anstrich.

Die engen Gassen geben dem Viertel ein besonderes Flair,
doch der Schein trügt

Die Kinder von Las Palmas blicken in eine
ungewisse Zukunft 


Die Dächer von Las Palmas

Eine hohe Mauer mit Stacheldraht trennt
das Viertel von einer Luxuswohngegend


Im Schatten der Mara

Die nüchterne Realität lässt sich in ‚Las Palmas‘ jedoch kaum verbergen. Die anhaltende wirtschaftliche Armut, die Enge, der Mangel an Wohnraum und Freiflächen, der himmelschreiende Kontrast zur Nachbarschaft und die systematische Vernachlässigung durch die öffentliche Hand haben ihre Spuren im Viertel hinterlassen. Das ‚Barrio 18‘, die blutrünstigste der salvadorianischen Straßengangs oder ‚Maras‘ hat Las Palmas fest im Griff. 

Viele Jugendliche haben in der mafiaähnlichen Organisation über die Jahre hinweg Schutz, Geborgenheit und Anerkennung gefunden. Die Gang ist ihre neue Familie geworden. Mit Schutzgelderpressungen, Drogenhandel und Raubüberfällen sichert sich die Bande das Auskommen und schaltet mit bestialischer Gewalt ihre Gegner aus. In Las Palmas bestimmen die ‚Mareros‘, wie die Bandenmitglieder hier genannt werden, wer rein und raus darf. Sie sind überall, sehen alles, wissen alles. 

Die Menschen in Las Palmas leben permanent im Schatten der ‚Mara‘. Auch wenn sie theoretisch deren Schutz genießen, können sie selten ruhig schlafen. Wer den wöchentlichen Schutzzoll nicht bezahlen kann oder  der ‚Mara‘ sonstige Gefallen verweigert bezahlt den Ungehorsam leicht mit dem Leben. 

„Das Absurde an alledem ist, dass die ‚Maras‘ ihre eigenen Leute terrorisieren“, erklärt mir Omar, ein Jugendlicher, der San Salvador aufgrund von Morddrohungen verlassen musste. Es sind zumeist die Armen selbst, die auf den Straßen sterben, während man in den gutbewachten Residenzvierteln das grausame Geschehen, wenn überhaupt, nur in den Abendnachrichten verfolgt.

Die Antwort des Staates auf das Problem trägt Kampfanzüge und Sturmmasken und versucht mit schwerer Kriegsbewaffnung der Lage Herr zu werden. Man scheint, trotz der Lektionen aus der jüngsten Geschichte, noch immer nicht begriffen zu haben, dass Gewalt nur noch mehr Gewalt erzeugt. Die großangelegten Polizei- und Militäreinsätze treffen häufig auch Unschuldige. 

In ‚Las Palmas‘ waren dies vergangenen Monat der einundzwanzigjährige Alvin und drei weitere Jugendliche, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielten. Alvin stand an jenem Abend unter der offenen Haustüre und telefonierte mit seiner Freundin als ihn ein Sondereinsatzkommando der Polizei überraschte, die Beamten ihn brutal zu Boden schlugen und ihm Handschellen anlegten. 

Gemeinsam mit drei Nachbarsjungen muss er sich nun als Bandenmitglied vor Gericht verantworten. Die Anklage lautet: unerlaubter Besitz und Führen von Kriegswaffen. In den Zeitungen war zu lesen, die Jugendlichen hätten auf dem Bolzplatz des Viertels Militärübungen mit Maschinengewehren durchgeführt und wären gefährliche Kriminelle.

Alvins Familie, Nachbarn, Freunde und Mitglieder der Kirchengemeinde, die der Junge regelmäßig besuchte, versichern Alvin sei kein Verbrecher. Er studierte an der Universität, arbeitete als Kellner in einem Restaurant und spielte für sein Leben gern Fußball im FC Roma, der Mannschaft des Nachbarviertels. Was war also geschehen? 

So wurden Alvin und seine Kameraden in der
Presse vorgeführt


Die Situation der Menschenrechte ist kritisch

Das renommierte Menschenrechtsinstitut der Zentralamerikanischen Universität von San Salvador (UCA) begleitet den Fall und leistet Alvins Familie Rechtsbeistand. Luis Monterrosa, der Direktor des Instituts war selbst bei der ersten Anhörung zugegen und bestätigt im Interview, dass laut Indizienlage die Jugendlichen keinerlei kriminellen Hintergrund aufwiesen und höchstwahrscheinlich Opfer staatlicher und medialer Willkür seien. 

Laut Monterrosa sei dies einerseits auf die nach wie vor mächtigen Militärs und die korrupte Polizeibehörde zurückzuführen, die Erfolgsgeschichten brauchten um ihren repressiven Kurs politisch zu rechtfertigen. Andererseits sei in den letzten Monaten zu beobachten, wie die großen Medienkonzerne die neue Gewaltwelle in El Salvador ausnutzten und zu einer erhöhten Verunsicherung in der Bevölkerung beitrügen. 

Hinter diesen beiden Tendenzen stehen, so Monterrosa, „mächtige Sektoren der Gesellschaft, bestehend aus Teilen der politischen Opposition, den alten Eliten aus Bürgerkriegszeiten und einflussreichen Unternehmerfamilien, die der demokratisch gewählten, linksorientierten Regierung um jeden Preis die Glaubwürdigkeit entziehen wollen“. Es sind große Namen. Namen die jeder kennt und die dennoch keiner nennt. Ihre rechtsradikalen Parolen und repressiven Methoden beginnen wieder auf mehr Echo in der salvadorianischen Gesellschaft zu stoßen.

Die Menschen in El Salvador haben genug von Gewalt und Terror. Rufe nach der Wiedereinführung der Todesstrafe werden laut. Vermummte Killerkommandos üben immer häufiger Selbstjustiz in Problembezirken. Trotz der Brisanz der Lage hat die seit Juni dieses Jahres amtierende neue Regierung bislang keinerlei Handlungsstrategie präsentiert, wie sie mit dem Problem umgehen will. 

Luis Monterrosa ist besorgt über die aktuellen Entwicklungen sowohl im Fall Alvin als auch auf nationaler Ebene. „Die anhaltende Gewaltwelle in El Salvador ist nicht schlicht auf kriminelle Delikte zu reduzieren, sondern ist Symptom eines tieferliegenden sozialen Problems. Finanzielle Armut und gesellschaftliche Exklusion spielen hier eine zentrale Rolle. Wir müssen den sozialen und strukturellen Charakter des Problems endlich erkennen und Lösungen finden. Was wir brauchen ist nicht die harte Hand, sondern einen gesamtgesellschaftlichen Dialogprozess und nachhaltige und koordinierte Präventionsarbeit“, fordert Menschenrechtler Monterrosa.

Alvin sitzt derweil auf dem Revier Monserrat in Untersuchungshaft. Er ist nur einer von vielen salvadorianischen Jugendlichen deren einziges Verbrechen es ist arm zu sein. Der nächste Verhandlungstag ist in voraussichtlich sechs Monaten und sollte Alvin für schuldig befunden werden, drohen ihm rund 8 Jahre Haft.


Zirkus für den Frieden

Als an diesem Samstagnachmittag Pappnasen und Lachsalven das Zentrum von ‚Las Palmas‘ fest im Griff haben ist von Polizeigewalt, Verbrecherbanden und Medienrummel keine Spur. Die Stimmung ist gelöst, heiter und selbst die aufziehenden Gewitterwolken treten unverrichteter Dinge den Abzug an.

Der Zirkus von Las Palmas ist kein gewöhnlicher Zirkus. Er hat kein Zirkuszelt, keinen Direktor, keine Weltsensationen. Es ist Zirkus der Straße, ein Zirkus auf dem Weg. Seine Clowns und Artisten sind Jungen und Mädchen aus dem Viertel ‚Las Palmas‘, die bis vor einem Jahr noch nie einen Jonglierball in der Hand oder gar ein Clown Kostüm anhatten. 

‚Las Palmas‘ hat keine gute Presse. Wenn das Viertel in den Nachrichten ist, dann in Verbindung mit Drogenrazzien und Mordfällen, wie der Fall von Alvin und seinen Freunden zeigt. Dies schlägt sich auch im Selbstwertgefühl der Bewohner nieder. Alles „Eigene“ ist hier schlecht. Man orientiert sich nach draußen um zu überleben, man muss raus aus dem Viertel, um jemand werden zu können. 

Der Zirkus von Las Palmas beweist auf spielerisch einfache Weise das Gegenteil. „Hier im Zirkus können wir gemeinsam entdecken und zeigen was wir können und, dass wir sehr wohl wer sind“, schwärmt Zirkusmitbegründer Francisco Bosch im Interview. Vor etwa neun Monaten hat der junge Argentinier und Anwohner von Las Palmas gemeinsam mit Freunden das Projekt ins Leben gerufen. 

Seitdem übt die bunte Truppe regelmäßig auf dem Pausenhof der Quartiersschule. Jeder kann mitmachen. „Wir fangen mit drei Jonglierbällen an und lernen Stück für Stück dazu. Wer etwas Neues kann, bringt es den Anderen bei und so lernen wir gegenseitig voneinander und haben vor allem viel Spaß.“

Die Jugendlichen haben nicht das Ziel möglichst professionell oder berühmt zu werden. Kern der Zirkusphilosophie ist es vielmehr gemeinsam zu lernen und zu wachsen. Die öffentlichen Aufführungen sind dennoch wichtig. Sie stärken einerseits das Selbstvertrauen der jungen Artistinnen und Artisten, und zeigen dem Publikum, dass in Las Palmas nicht nur Nichtsnutze und Kriminelle leben, sondern auch echte Künstler. 

Bosch betont, dass er den Zirkus nicht in erster Linie als Projekt zur Gewaltprävention sieht. „Wenn man von Prävention spricht, legt man den Fokus wieder auf die Gewalt“, erklärt er. „Zirkus hingegen heißt Körperkontakt, Spiel, Begegnung mit dem Anderen. So, glauben wir, fängt Friede an und am Ende besiegen wir damit tatsächlich die Gewalt, auch wenn das nicht unser vordergründiges Ziel ist.“ „Was wir versuchen“, fügt er hinzu, “sicher nicht ohne Hindernisse und Irrungen, ist es mit der Kunst Wege zu eröffnen und Alternativen zur alltäglichen Gewalt zu leben“.

Als an diesem frühen Samstagabend die letzte Keule gekonnt in die Hand ihres Jongleurs gefallen ist, und der tosende Beifall und die Bravorufe verstummt sind, gehen die Menschen von ‚Las Palmas‘ mit einem Lächeln nach Hause. Das Joch der Gewalt drückt weiterhin schwer auf El Salvador. Daran können auch Initiativen wie der Jugendzirkus wenig ändern. 

Politische Maßnahmen und ein gesamtgesellschaftlicher Dialogprozess sind unumgänglich auf dem Weg zum sozialen Frieden in dem vom  Bürgerkrieg gezeichneten mittelamerikanischen Land. Was die Jugendlichen aus dem Elendsviertel im Herzen San Salvadors jedoch können und auf großartige Weise tun, ist es ihrem Land zu zeigen, dass seine Jugend nicht verloren ist, dass die junge Generation bereit ist an einer neuen, anderen Gesellschaft mitzubauen, und, dass drei Jonglierbälle nur der Anfang sind.

Drei Bälle für einen neue Welt
Die Truppe vom Circo de Las Palmas



Samstag, 19. Juli 2014

Befreiungstheologie heute

Vor wenigen Wochen erklärte der Vorsitzende der lateinamerikanischen Bischofskonferenz (CELAM) Carlos Aguiar Retes auf einer Pressekonferenz in Rom, die Befreiungstheologie sei, „wie ihre Gründerväter ins Greisenalter gekommen, wenn nicht gar schon tot“. An der Universidad Centroaméricana ‚José Simeón Cañas‘ (UCA) in San Salvador schmunzelt man über diese Worte nur. „Es ist wahr, dass wir alt sind. Schaut uns an“, kommentiert Jon Sobrino in seiner Vorlesung lachend die Worte des mexikanischen Bischofs. „Aber der Papst und die meisten Bischöfe sind doch auch alt und keiner beschwert sich darüber.“

Seit drei Semestern studiere ich nun an der UCA einen Master in „lateinamerikanischer Theologie“. Im Vorfeld in Deutschland waren nicht wenige skeptisch angesichts meiner Pläne: „Wird dir das Studium danach in Deutschland überhaupt anerkannt?“ „Ach, die Befreiungstheologie ist doch Vergangenheit“, oder „die UCA ist auch nicht mehr was sie mal war“. Ich wollte es wissen. Ich wollte mehr erfahren über diese beeindruckende Weise den Glauben zu leben, über diese so andere und existentielle Art Kirche zu verstehen von der ich 2005 während meines Freiwilligendienstes in Peru angesteckt worden war.

Der Master könnte schlicht auch „Befreiungstheologie“ heißen, wäre so aber vermutlich noch stärker den niemals verstummenden Polemiken aus Rom ausgesetzt und letztlich bringt es der Zusatz „lateinamerikanisch“ doch ganz gut auf den Punkt. Neben den Koryphäen der UCA, den Jesuiten Jon Sobrino und Juan Hernández Pico, beide einst enge Vertraute und Berater des 1980 ermordeten hiesigen Erzbischofs Oscar Romero, kommen die Dozentinnen und Dozenten im Master aus allen Ecken des Kontinents und sind allesamt tief verwurzelt in der Tradition der Befreiungstheologie.

Der Jesuit und Befreiungstheologe Jon Sobrino während einer Vorlesung im
Master in Lateinamerikanischer Theologie an der UCA
Juan Hernández Pico "Piquito", ebenfalls Jesuit, Soziologe und Befreiungstheologe
in seiner Vorlesung über den sozio-politischen Kontext Lateinamerikas 

Die großen Namen der Befreiungstheologie, Ignacio Ellacuría, Jon Sobrino, Leonardo Boff, Gustavo Gutiérrez, Juan Luis Segundo, darin hat der CELAM Präsident recht, sind tatsächlich alles alte Männer oder längst verstorben. Über die Befreiungstheologie als solche sagt dies jedoch recht wenig aus. Im Gegenteil, die Befreiungstheologie stützt sich weniger als die „klassische“ Theologie, ich würde gar sagen weniger als jede andere Geisteswissenschaft auf graue Eminenzen und unantastbare Autoritäten. 

Im Zentrum steht der Glaube des Volkes, genauer die „Armen mit Geist“ (Mt 5,3) die Jesus in der Bergpredigt selig preist. Das Leben, die Menschen und ihre Umwelt sind oberste Priorität dieser Theologie. Die Bibel kommt an zweiter Stelle. Die kirchliche Tradition danach. Den Leidenden, den Ausgeschlossenen, den Entrechteten, den Unsichtbaren zuzuhören und gemeinsam mit ihnen die frohe Botschaft des Evangeliums in ihrer meist nicht sehr frohen Lebenswelt zu verwirklichen ist die verantwortungsvolle Aufgabe der Theologin, des Theologen und letztlich aller Christen. 

Studentinnen und Studenten der UCA fordern auf einer Kundgebung in San Salvador gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationendie Einhatung und den Schutz der Menschenrechte im Oktober 2013

Seit ihrer Geburtsstunde in der Mitte des 20. Jahrhunderts haben Vertreterinnen und Vertreter der Befreiungstheologie auf dem ganzen Kontinent radikal Partei für die Armen ergriffen und nicht selten auch deren politische Forderungen nach Gerechtigkeit und Freiheit unterstützt. Die westliche Welt und die Amtskirche rückten die Befreiungstheologie daraufhin schnell in die Marxismus-Ecke und schienen vergessen zu haben warum Jesus von Nazareth ans Kreuz geschlagen worden war. 

Die Befreiungstheologie ist, entgegen der verbreiteten Meinung, keine theologische Strömung unter anderen, keine Modeerscheinung, keine Fachrichtung. Befreiungstheologie ist ein Versuch die christliche Botschaft des Evangeliums radikal zu Ende zu denken, eine authentische Umsetzung der Reformen des 2. Vatikanischen Konzils in Lateinamerika. Die Befreiungstheologie wird in der katholischen Kirche wohl niemals mehrheitsfähig sein, weil sie wie die Urkirche vor 2000 Jahren die vorherrschende Gesellschaftsordnung anklagt und Gerechtigkeit fordert. Das ist unbequem und hat Lateinamerika zu einem Kontinent der Märtyrer gemacht.

Gewiss, die Verhältnisse haben sich geändert. Die großen Bürgerkriege und Revolutionen der 1970er und 80er Jahre sind vorbei und die alten Klassiker der Befreiungstheologie lassen sich nicht ohne weiteres ins Heute übertragen. Jon Sobrino und „Padre Piquito“, wie Juan Hernández Pico hier liebevoll genannt wird, sind sich dessen bewusst, ist es doch eine der Grunddimensionen der Befreiungstheologie. Sie ist keine Lehre für die Ewigkeit, keine absolute Wahrheit. Der brasialianische Bischof Pedro Casaldáliga sagte einmal: „Es gibt nur zwei absolute Dinge auf der Welt: Gott und der Hunger.“ Befreiungstheologie ist Christentum auf dem Weg, unvollendet, fehlerhaft, dienend, von der Hoffnung getrieben.

Was bleibt ist die Methode. Das Prinzip „Sehen – Urteilen – Handeln“, die kritische Analyse der sozialen Verhältnisse, das Konzept der strukturellen Sünde, die entschiedene Option für die Armen und die fundamentale Frage: Was sagt uns die frohe Botschaft des Evangeliums hier und heute? Auch wenn sich die Zeiten geändert haben, die Welt ist kaum friedlicher und gerechter geworden. Tausende Salvadorianerinnen arbeiten tagtäglich unter unmenschlichen Bedingungen in den „Maquilas“ der Textilindustrie. Landraub sowie Verschmutzung und Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch multinationale Großkonzerne sind ein Fluch für unzählige Dorfgemeinschaften. Die Kriminalitätsrate erreicht derzeit einen neuen Gipfel in El Salvador und der Waffenstillstand der „Maras“ steht vor dem Aus. Jährlich machen sich eine halbe Million Mittelamerikaner auf den gefährlichen Weg in den Norden, auf der Suche nach einem Leben in Würde.

Die Menschen geben jedoch nicht auf. Der Glaube, die Gemeinschaft, die Hoffnung haben nach wie vor eine ungebrochene Kraft. Menschenmassen ziehen jedes Jahr am 24. März durch die Straßen San Salvadors und lassen ihren Märtyrer Oscar Romero tausendfach auferstehen. Was ich in meinem Masterstudium an der UCA gelernt habe, ist, dass Christsein verantwortlich macht. Gewiss, wir werden kaum dem Elend der Menschheit ein Ende setzen, aber wir können dazu beitragen, diese Welt, unser Umfeld ein klein wenig menschlicher zu machen. 

Darum haben wir uns an der UCA mit einigen Mitstudentinnen und Mitstudenten aus El Salvador, Mexiko, Costa Rica, Argentinien, USA, Deutschland und Spanien zusammengeschlossen und das „Colectivo Raíces“ (raíz = Wurzel) gegründet. Jede und jeder von uns ist neben dem Studium in irgendeiner Weise in Basisorganisationen engagiert. Ziel der Gruppe ist es, Befreiungstheologie heute zu machen, aktuelle Themen aufzugreifen, eigene theologische Artikel zu veröffentlichen und einen kritischen theologischen Diskurs anzustoßen. 

Dieser ständige intensive Austausch untereinander und mit den verschiedenen Lebensrealitäten Lateinamerikas ist sehr bereichernd und lässt mich spüren, dass die Befreiungstheologie weder alt noch tot ist. Sie wird immer existieren. Nicht auf heiligen Stühlen, nicht in Kathedralen, aber im „Barrio“, auf den Maisfeldern, in den Fabriken, auf dem Weg nach Norden, in Lumpen und im Gefängnis, dort wo Jesus von Nazareth jeden Tag aufs Neue gekreuzigt wird und jeden Tag aufs Neue aufersteht.

Die Master-Gruppe mit Padre Piquito

Gemeinsame Feier zum Semesterabschluss

Theologie im Hier und Heute: Das 'Colectivo Raíces' im Rosengarten der UCA


Links (auf spanisch):

Blog des Colectivo Raíces: http://colectivoraices.wordpress.com/


Vorstellung des Masterstudiums an der UCA: http://www.youtube.com/watch?v=MCk6SwzpIx8

Die Zukunft beginnt im Heute

Still war es hier in der letzten Zeit. Der Grund dafür ist, dass es hier in El Salvador und in meinem Leben in den letzten Monaten alles andere als still war. Viele Nachrichten erreichten mich, viele Nachfragen, wann denn endlich wieder was im Blog erscheine. Berechtigt!

Mir geht es weiterhin sehr gut hier und das Leben hat mich, während seit Anfang des Jahres über tausend Salvadorianerinnen und Salvadorianer das ihre verloren haben in einem Krieg der ungleicher kaum sein könnte und dessen Ende nicht in Sicht scheint. Das alles geht nicht spurlos an mir vorbei. In den letzten Monaten war ich näher an den Menschen, erlebe ihre Verzweiflung und ihre Hoffnung. Die Verzweiflung sieht man hier täglich in den Nachrichten. Von der Hoffnung will ich hier im Blog berichten.

Ich werde mich in der nächsten Zeit wieder häufiger hinsetzten und schreiben. Das bin ich den Menschen schuldig. Den Anfang macht ein Artikel von mir, der diesen Monat in der Badischen Zeitung erschien.

Danke für eure Nachfragen, euren Ansporn, eure Zweifel, eure Kritik und eure lieben Worte. Ich freue mich immer über Nachrichten und versuche zeitnah zu antworten. Gerne könnt ihr auch die Kommentarfunktion im Blog nutzen, jeweils unter den Beiträgen.

In diesem Sinne, auf das Leben und auf die Hoffnung!

Herzliche Grüße aus San Salvador in die Welt,

euer Benjamin


ETTENHEIM/EL SALVADOR (BZ). El Salvador ist das kleinste Land Mittelamerikas. Fast unscheinbar zwängt es sich zwischen seine größeren Geschwister Guatemala, Honduras und Nicaragua. Seine Geschichte steht diesen jedoch in nichts nach. Es ist die tragische Geschichte eines Volkes das ums Überleben kämpft. Die fünfhundertjährige Herrschaft der Großgrundbesitzer mündete Ende der 1970er Jahre in einen zwölfjährigen, blutigen Bürgerkrieg dessen Wunden bis heute nicht verheilt sind. Es hat heute gar den Anschein, dass der Bürgerkrieg niemals wirklich geendet hat. Es sind Jugendbanden, Drogenkartelle und rechtsextreme Gruppen, die das Land immer wieder in Angst und Schrecken versetzen. El Salvador hat eine der höchsten Mordraten weltweit. Die Lebensbedingungen in den zahlreichen Armenvierteln sind unmenschlich. Auch wenn die linke Regierung in den vergangenen Jahren viele Reformen vorantreiben konnte, bleibt noch viel zu tun in dem hochverschuldeten Land. 
Seit gut einem Jahr lebe ich nun in El Salvador und schließe hier an der Jesuitenuniversität UCA mein Theologiestudium ab. Auf den Spuren von Oscar Romero, dem 1980 ermordeten Erzbischof San Salvadors und der verschiedenen Befreiungsbewegungen tauche ich immer tiefer ein in diese so andere Realität. Trotz aller Widersprüchlichkeiten und traurigen Nachrichten sprüht El Salvador vor Leben. Zwei Drittel der Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre. In ihnen ruht die Hoffnung des Landes auf eine rosigere Zukunft, eine Zukunft die im Heute beginnt. 
 

Sozialkundeunterricht im Grünen

Bildung ist einer der Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Da der Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung in El Salvador nach wie vor sehr beschränkt ist, gibt es eine Vielzahl von nationalen sowie internationalen Initiativen, die besonders Jugendlichen aus armen Verhältnissen zu Gute kommen.

In den vergangenen Monaten hatte ich die Gelegenheit zwei solcher Projekte näher kennenzulernen. Bei dem einen handelt es sich um das Stipendienprogramm der UCA, das es jungen Erwachsenen aus benachteiligten Familien ermöglicht ein Studium an einer der besten Universitäten des Landes zu absolvieren. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten werden während der gesamten Studienzeit begleitet und erhalten zahlreiche Möglichkeiten Praktika zu leisten und einen Weg ins Berufsleben zu finden, um so den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen.

Mit Akademikern alleine kann allerdings keine Gesellschaft funktionieren. Jedes Land braucht Arbeiter, Bauern, Handwerker und Techniker, die gut ausgebildet und unter würdigen Bedingungen die Lebensgrundlage aller produzieren. Sie sind das Fundament einer jeden Gesellschaft. Vor wenigen Tagen startete das Projekt ‚Escuela Campesina‘ (Campesino/Bauern Schule) einer salvadorianischen NGO. Ziel ist es in vier Monaten einer Gruppe von jungen und motivierten Männern und Frauen die Grundlagen in ökologischer Landwirtschaft zu vermitteln. Dies soll ihnen ermöglichen nachhaltig gesunde Lebensmittel zu produzieren und zu vermarkten und so neben den an Einfluss gewinnenden Großkonzernen der Lebensmittelindustrie überleben zu können. An den Nachmittagen erhalten die Jugendlichen zudem Unterricht in verschiedenen allgemeinbildenden Fächern, wie Geschichte, Musik und Sozialkunde, letzteres unter meiner Anleitung.

Ich selbst durfte die Jugendlichen aus beiden Projekten kennenlernen und bin begeistert von ihrem Antrieb, ihrer Kreativität und ihrer Zukunftsvision. Sie sind Hoffnung für El Salvador und für unsere Welt. Leider sind derartige Projekte kaum möglich ohne Unterstützung aus dem Ausland. Sowohl das Stipendienprogramm wie auch die ‚Escuela Campesina‘ werden ausschließlich aus Spendengeldern finanziert. Auch Menschen aus Deutschland und Ettenheim haben dies ermöglicht, durch ihre Spenden im Umfang von 1100 Euro, die sie mir während meinem Deutschlandbesuch im Februar und im Rahmen meiner Vortragsveranstaltungen zukommen ließen. Wenngleich Spenden auch längst nicht alle Probleme lösen können und tiefgreifende Veränderungen in unser aller Verhaltensweisen notwendig sind, ich, und besonders die Jugendlichen selbst sind für diesen wichtigen Beitrag sehr dankbar.

Der Artikel auf der website der BZ: http://www.badische-zeitung.de/ettenheim/bildung-als-schluessel--86688646.html

Samstag, 5. April 2014

Romero lebt!



„¡Que viva Monseñor Romero!“ (Hoch lebe Erzbischof Romero!), ruft Mirna mit energischer Stimme. Sie ist eine korpulente Frau schätzungsweise Anfang vierzig, Rechtsanwältin bei der nationalen Polizeibehörde. „¡Que viva!“, antworten etwa 50 Männer und Frauen, Junge und Alte die sich an diesem Samstagnachmittag auf dem Dorfplatz von Nejapa vor der Kirche San Gerónimo versammelt haben. Mirna tritt einen Schritt zur Seite, überlässt mir das Mikrophon. Die Zuhörerinnen und Zuhörer schauen mich erwartungsvoll an. Wie komme ich hierher?

Mirna studiert mit mir zusammen den Master in lateinamerikanischer Theologie an der UCA. Vor etwa zwei Wochen sprach sie mich an und fragte ob ich bereit wäre an diesem Samstag ihre Gemeinde zu besuchen, um einen Vortrag über Oscar Romero zu halten, anlässlich des 34. Jahrestages seiner Ermordung. Ich stutzte zunächst.

Was sollte ein Deutscher, der gerade seit einem guten Jahr in El Salvador lebt und 1980 noch nicht einmal geboren war, den Salvadorianern über ihren ehemaligen Erzbischof und Volksheiligen erzählen können? „Nein, nein!“, lenkte Mirna ein. „Es geht mehr darum, dass du von deiner eigenen Erfahrung erzählst, dass die Leute verstehen können, was dich dazu bewegt hat, von so weit her zu uns zu kommen und unsere Geschichte zu studieren.“


Wasser für alle?


Ich ließ mich schließlich überzeugen und willigte ein. Am jenem Samstagnachmittag treffe ich Mirna in der Nähe des Regierungsviertels von San Salvador, von wo aus wir uns mit ihrem Auto auf den Weg nach Nejapa machen. Die Fahrt dauert eine gute halbe Stunde. Wir lassen die verstopften Straßen der Hauptstadt hinter uns, die Abgase, die Betonwüste, die die nachmittägliche Hitze unerträglich macht.

Bald fahren wir vorbei an grünen Fincas, die Landstraße gesäumt von Mangobäumen, Ceiba, Bananenpalmen und Marañón. Die Luft ist wie ausgewechselt. Ein angenehmer Wind weht durch das offene Fenster. Ich hole tief Atem.

„Unter uns befindet sich eines der größten Süßwasserreservoirs von El Salvador, deshalb ist es hier so grün“, erklärt mir Mirna. „Fast die ganze Hauptstadt wird aus diesem riesigen Grundwasservorkommen versorgt. Aber das bringt uns hier wenig. Seit ein paar Jahren haben es die großen Konzerne auf unser Wasser abgesehen.“ Ich schaue sie ungläubig an. Doch wie aus dem Nichts tauchen am Straßenrand riesige Industrieanlagen auf.

Agua Cristal, eine Tochtergesellschaft von der Coca-Cola Company hat hier seine Produktionsstätte. Der multinationale Konzern hat ein Quasimonopol auf dem salvadorianischen Trinkwassermarkt. Keiner weiß genau wieviel Grundwasser die Firma Tag für Tag aus der Erde saugt, filtert und in Plastikflaschen abfüllt.

Dieser massive Eingriff in den Wasserkreislauf bleibt nicht ohne folgen für Mensch und Natur. Der Rio San Antonio, ein kleiner Fluß aus dem die Menschen seit Jahrhunderten Wasser schöpfen, in dem sie baden und ihre Wäsche waschen, ist von Abwässern und Industriegiften verseucht. Die Häuser vieler Anwohner haben nur stundenweise fließendes Wasser, weil der Druck auf der Leitung nicht mehr ausreicht. Vielen bleibt nichts anderes übrig als Agua Cristal zu kaufen.

Eine Literflasche Agua Cristal kostet etwa 75 cent. Die Firma zahlt 44 US$ Gewerbesteuer im Monat. Das ist alles. Agua Cristal ist jedoch nicht der einzige, der die Erde unter Nejapa aussaugt. Direkt nebenan steht Jumex, ein mexikanischer Fruchtsaftfabrikant und der größte Brauereibetrieb des Landes plant die Eröffnung eines Standpunktes in der Zone.


Romero, Prophet und Volksheiliger


Als wir von der Landstraße abbiegen in eine ruhige und schattige Allee bin ich noch immer sprachlos. Wir erreichen Nejapa etwa um halb fünf. Der Ort besteht aus kaum mehr als einer Haupt- und einigen Seitenstraßen und liegt idyllisch am Fuße des Vulkans von San Salvador. Aus der Hauptstadt kommend ist es als würde ich in eine andere Welt eintauchen. Die Luft ist angenehm frisch, die Menschen lächeln freundlich, alles scheint hier ein bisschen langsamer zu gehen und der Ort strahlt eine geheimnisvolle Ruhe aus.

Wir lassen das Auto nahe dem Dorfplatz stehen und Mirna bedeutet mir ihr zu folgen. Der Platz ist bevölkert von spielenden Kindern, plaudernden Rentnern, Männern und Frauen die kleine Snacks und Getränke verkaufen, andere die kaufen. An den schattigen Park grenzen kleine Läden, Friseurgeschäfte, Restaurants, das Rathaus, die Bank, überall gehen Menschen ein und aus. Hier scheint sich das öffentliche Leben von Nejapa abzuspielen.

Zu Gast bei Mirna und ihrer Familie in Nejapa

Auf der gesperrten Hauptstraße vor der Kirche San Gerónimo sitzt eine Gruppe von Personen und lauscht aufmerksam den andinen Klängen einer Musikgruppe, die im Schatten eines kleinen Pavillons spielt. Mirnas Ehemann und ihre beiden Töchter, 10 und 17 Jahre, begrüßen mich herzlich. Kaum hat die Musikgruppe ihr Spiel beendet, ruft mich Mirna zu sich unter den Pavillon. Sie ist eine der Koordinatorinnen der Gemeinde und genießt große Anerkennung unter den Mitgliedern. Nach einigen einführenden Worten überlässt sie mir das Mikrophon.

So stehe ich nun hier, ein Deutscher in Nejapa, und schaue in die erwartungsvollen Gesichter von Menschen die Dinge erlebt haben, die ich mir nicht annähernd vorstellen kann. Nejapa hat schwer gelitten während dem zwölf Jahre andauernden Bürgerkrieg (1980-1992). In den umliegenden Bergen versteckten sich damals die Rebellen. Militärhubschrauber und Bodentruppen durchkämmten die Gegend unermüdlich. In vielen der Dorfbewohner hallen die dumpfen Detonationen von Bomben und Granaten bis heute nach.

Was soll ich diesen Menschen heute erzählen? Wer ist für sie überhaupt dieser Oscar Romero, der sich als Erzbischof von San Salvador radikal für sein unterdrücktes Volk einsetzte und aus diesem Grund am 24. März 1980, während er eine Messe zelebrierte, von einem Sonderkommando des Militärs ermordet wurde.

Ich beschloss diese Fragen mitzunehmen nach Nejapa und die Menschen selbst zu fragen. Das tue ich nun, ganz schlicht und einfach. „Wer ist Monseñor Romero?“, rufe ich, im hier üblichen anfeuernden Tonfall, in die Menge. „Unser Heiliger!“, kommt prompt die Antwort. „Ist er lebendig?“, frage ich zurück. „Ja“, tönt es einstimmig über den Dorfplatz. „Und wo ist er?“, lasse ich nicht locker. „In unseren Herzen!“, antworten die Menschen im Chor als wäre es einstudiert.

Ich stelle mich kurz vor und erkläre was mich als Deutschen Studenten nach El Salvador und in ihr Dorf geführt hat, dass ich hier bin, um zu lernen, um zu verstehen, um zuzuhören. Bald habe ich das Vertrauen der Menschen gewonnen und wir begeben uns gemeinsam auf die Spuren ihres Heiligen.

Für große Teile der Bevölkerung El Salvadors ist Oscar Romero, der von der katholischen Kirche bis heute nicht heilig gesprochen wurde, mehr als ein einfacher Heiliger. Er ist auch heute noch, 34 Jahre nach seiner Ermordung ihr Prophet. Die Verehrung des ehemaligen Erzbischofs ist nicht bloßes Totengedenken. Romero lebt für die Menschen weiter. Er lebt, weil seine Stimme ihnen auch heute noch so viel zu sagen hat, weil er bis heute „die Stimme der Stimmlosen“ ist, wie er es selbst einmal gesagt hat.

Die zwölf Jahre Bürgerkrieg haben etwa 75.000 Menschenleben gefordert. Seit der Unterzeichnung der Friedensverträge jedoch sind in El Salvador über 100.000 weitere Menschen gewaltsam ums Leben gekommen oder verschwunden. Hinzu kommt die zunehmende Ausbeutung durch multinationale Konzerne, die Zerstörung der natürlichen Ressourcen und eine Politik der Lüge und des Schweigens. Das Land kommt nicht zur Ruhe.

„Wenn Monseñor Romero heute zu euch sprechen würde, was würde er euch sagen?“, frage ich meine ZuhörerInnen. „Er würde uns zur Einheit und zur Versöhnung aufrufen“, meint eine junge Frau in der ersten Reihe. Seit dem Krieg ist die Gesellschaft El Salvadors zutiefst gespalten. Politisch in eine extreme Linke und eine extreme Rechte. In mittellose Opfer, Invaliden und Witwen, bis heute ohne öffentliche Anerkennung geschweige denn Entschädigung auf der einen und superreiche Geschäftsleute und Großgrundbesitzer auf der anderen Seite.

Manchmal, ohne es zu wollen, komme ich mir vor wie im wilden Westen, wenn ich die Verflechtungen zwischen Politik, Privatwirtschaft und Drogenhandel sehe, wenn die Rachefeldzüge der beiden rivalisierenden Jugendbanden wieder die Nachrichtenbilder dominieren und im Wahlkampf Drogenbarone mit Cowboyhut die Revolver schwingen und zum bewaffneten Aufstand aufrufen. Es tut weh dies zu sehen. Dieses Land, diese Menschen haben das nicht verdient.

Versöhnung ist das zentrale Thema in El Salvador, insgeheim zumindest. Im öffentlichen Diskurs und im konkreten Handeln der politischen Kräfte ist von Versöhnung keine Rede. Das Parlament hält immer noch an dem 1993 verabschiedeten Amnestiegesetzt fest. Ein Gesetz des Schweigens und des Vergessens, das jeglichen Versuch, die unzähligen Massaker und Menschenrechtsverletzungen aus der Bürgerkriegszeit zur Anklage zu bringen, im Keim erstickt.

Bis heute wissen Tausende Salvadorianer nichts über den Verbleib ihrer Kinder, ihrer Väter, ihrer Schwestern und Brüder. Sie haben keinen Ort an dem sie Blumen niederlegen können. Selbst das Trauern ist ihnen verboten. Konservative Kräfte im Land wehren sich vehement gegen eine Aufarbeitung der Vergangenheit. „Wozu alte Wunden wieder öffnen?“, sagen sie. Auf der anderen Seite stehen die Opferverbände, die Bauern und Arbeiter. Sie entgegnen: „Wie können wir Wunden öffnen wollen, die sich niemals geschlossen haben?“

Ein junger Mann meldet sich zu Wort: „Monseñor Romero würde uns auch daran erinnern, dass wir die Umwelt nicht zerstören sollen, dass wir unsere Flüsse nicht verschmutzen und sorgsam mit unserer Erde umgehen.“ So sprechen wir noch eine Weile über Romero, über El Salvador gestern und heute, über die Welt. Auch aus den angrenzenden Geschäften und von den Parkbänken recken die Leute ihre Hälse zu uns herüber. Die großen Lautsprecher tragen die Worte bis in den letzten Winkel des Dorfes. Zuweilen fühle ich mich wie der Prediger einer der zahllosen Pfingstkirchen hier und muss schmunzeln.

Oscar Romero hatte den Mut, die Ungerechtigkeiten seiner Zeit offen anzuzeigen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Es gibt viele Menschen die in diesem Sinne sein Erbe fortführen und noch heute ist das gefährlich in El Salvador. Aber die Menschen geben nicht auf, sind selbst Propheten, Wahr-Sager. Sie machen weiter im Kleinen wie im Großen und haben Hoffnung. Dafür bewundere ich sie.





¡Que viva!


Am Ende meines kleinen Impulsgesprächs auf dem Dorfplatz von Nejapa kommt eine ältere Frau auf mich zu. Sie blickt mich an und sagt nur: „Danke, dass Sie die Wahrheit sagen. Mir haben sie meine Tochter genommen im Krieg. Das trage ich heute noch in mir.“ Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ich nehme sie in den Arm, das ist alles.

Es ist bereits später Nachmittag als sich die Gemeindemitglieder in zwei Reihen auf der Hauptstraße aufstellen. Jugendliche verkaufen selbstgebastelte Windlichter. Mit einer Lichterprozession durch den Ort soll dieser Tag abgeschlossen werden. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung, voraus ein Pkw mit Lautsprechern auf dem Dach aus dem abwechselnd Tonaufnahmen von Monseñor Romero und Hoffnungslieder in bewegten Latino-Rhythmen klingen.

Die kleine Prozession bahnt sich ihren Weg durch die geschäftigen Straßen. Am Samstagabend kommen viele Familien in den Ort zum traditionellen Pupusa-Essen. Andere sitzen auf Stühlen und in Hängematten vor ihren Häusern und unterhalten sich mit den Nachbarn. Wieder nehme ich diese Ruhe, diese Entspanntheit wahr, die ich in der Hauptstadt kaum fühle.

Ein Jugendlicher greift zum Mikrophon. „Schwestern und Brüder, ich muss euch leider mitteilen, dass unsere Schwester Doris ihrer Krankheit erlegen ist und uns heute verlassen hat. Möge sie Frieden finden.“ Die fröhliche Musik wird für einen Augenblick unterbrochen, ohne dass aber die Prozession ins Stocken geriete. Einige Frauen trocknen ihre Tränen.

Von Mirna erfahre ich, dass Doña Doris seit längerem an Diabetes erkrankt war, jedoch keiner mit ihrem plötzlichen Tod gerechnet hatte. Sie war um die vierzig und hinterlässt drei Kinder. Die jüngste Tochter ist sieben. Einen Vater haben sie nicht mehr. Der Zug geht weiter. Die Musik tönt blechern aus den Lautsprechern. Einer ruft: „¡Que viva Monseñor Romero!“. „¡Que viva!“, antwortet die Menge.

Am Ende verabschiede ich mich von Mirnas Familie und Nejapa. Ich muss zurück nach San Salvador. Es war ein schöner Nachmittag in diesem magischen Örtchen und ich verspreche bald wieder zu kommen.

Einmal mehr erfahre ich, wie nahe hier in El Salvador Leben und Tod beieinander liegen, sich gegenseitig bedingen. Ich bekomme eine Ahnung vom Leben der Menschen hier, das trotz der Verluste, des Schmerzes und der Aussichtslosigkeit Leben ist und das dank Menschen wie Oscar Romero, die Hoffnung spenden, zum Leben in Fülle wird.

Pupusas, das Nationalgericht El Salvadors

Die Prozession setzt sich in Bewegung

Junge und Alte sind heute auf der Straße

"Wenn sie mich töten werde ich im salvadorianischen Volk auferstehen." (Oscar A. Romero)