Samstag, 18. Oktober 2014

Von Zirkusclowns und Sturmkommandos

Im Rhythmus einer alten Blechtrommel und laut johlend und singend schiebt sich eine Karawane aus farbenfroh geschminkten und verkleideten Kindern und Jugendlichen durch die enge Hauptstraße der Elendssiedlung ‚Las Palmas‘ im Herzen San Salvadors. Der Alltag scheint für einen Moment still zu stehen. Der Tortilla-Teig wird zur Seite gelegt, das Nickerchen unterbrochen. Alt und Jung säumt die Straße, lehnt sich aus den Fenstern, um die Ursache des Tumults zu erfahren.

El Salvador ist das kleinste Land Mittelamerikas. Unbekannt ist es auf der Weltbühne dennoch nicht. Wenn im Ausland von El Salvador die Rede ist, dann meist im Zusammenhang mit dem grausamen Bürgerkrieg der 1980er Jahre, gewalttätigen Straßengangs, skrupellosen Drogenkartellen und einer der höchsten Mordraten der Welt. All das kommt nicht von ungefähr. Noch heute sind unzählige Kriegsverbrechen von damals nicht aufgeklärt, unzählige Wunden in der Bevölkerung unverheilt. 

Die vergangenen Jahre haben statt Frieden und Entwicklung neue Wunden geschlagen. Der blutige Konflikt zwischen den beiden berüchtigten und international agierenden Jugendbanden ‚Mara Salvatrucha‘ und ‚Barrio 18‘ hat sich längst auf die vor allem arme Zivilbevölkerung ausgeweitet und ganze Stadtviertel in Kriegsschauplätze verwandelt. Die neue Gewaltwelle in El Salvador hat allein in diesem Jahr bereits über 2500 Menschenleben gefordert. 

Tausende Menschen leben im permanenten Ausnahmezustand. Ununterbrochen werden Wohnungen geräumt, Geschäfte geschlossen. Tagtäglich verlassen offiziellen Schätzungen zufolge etwa 500 Salvadorianer das Land, die meisten von ihnen in Richtung USA.

Nichts scheint weiter entfernt als in dieser Situation von kollektiver Angst, Wut und Verzweiflung Clowns und Zirkuskünstler zu beschwören. Doch der Schein trügt. ‚Las Palmas‘ ist an diesem Samstagnachmittag Schauplatz eines außergewöhnlichen Spektakels. 

Wenige Minuten später erreicht der kleine, bunte Umzug eine Straßenkreuzung und nimmt diese umgehend in Beschlag. Aus einem Lautsprecher tönt laut Zirkusmusik und schon beginnen bunte Jonglierbälle und Keulen durch die Luft zu fliegen. Das Publikum lässt nicht auf sich warten. Die Nachricht vom Zirkus hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet in ‚Las Palmas‘. Im Handumdrehen ist die Straße voller Menschen. Da sind grölende und sich vor Lachen kringelnde Kinder, vergnügte Senioren und der eine oder andere, der aus reiner Neugier gekommen ist und einfach nicht glauben kann was da geschieht.


‚Las Palmas‘: Leben im Abseits

‚Las Palmas‘ ist nicht irgendein Stadtviertel von San Salvador. Es ist ein besonderes und hat darum auch eine besondere Geschichte. Anfang des vergangenen Jahrhunderts, zur Zeit des Kaffee-Booms in El Salvador, siedelten sich hier am Fuß des Vulkans die Familien der Plantagenarbeiter an. Von früh bis spät schufteten ganze Familien auf den umliegenden Haciendas der Großgrundbesitzer, pflanzten, düngten, stutzten und  ernteten Kaffee für einen Hungerlohn. 

Jahrzehnte später ist der Wald ist gerodet, die Kaffeeplantagen verschwunden, die Menschen von ‚Las Palmas‘ aber sind geblieben und mit ihnen ihre arbeitsamen Hände. Heute befindet sich das Viertel inmitten eines der exklusivsten Geschäftsbezirke der Hauptstadt und ist umrundet von hohen Luxushotels. Besser geht es den Bewohnern von ‚Las Palmas‘ trotzdem nicht. Viele von ihnen arbeiten heute im informellen Sektor als Verkäufer im Stadtzentrum oder als Schichtarbeiter in den ‚Maquilas‘, den Textilfabriken, wo sie unter sklavenähnlichen Verhältnissen Kleidung für den Exportmarkt herstellen.

Eine hohe Mauer trennt die einstige Plantagenarbeitersiedlung von den pompösen Villen und gläsernen Bürotürmen in der Nachbarschaft. Draußen allradbetriebene Geländewagen und Luxuslimousinen und drinnen Handkarren und klapperige Rostbeulen. Heute leben  etwa 1000 Familien in ‚Las Palmas‘, insgesamt knapp 8000 Personen. 

Der Raum ist begrenzt. Freier Baugrund ist nicht vorhanden. So sind die Häuser über die Jahre hinweg immer enger zusammengewachsen und mehr und mehr Menschen teilen sich die kleinen zwei- bis dreistöckigen  Behausungen. Die schmalen Straßen und engen Gässchen schaffen das Flair einer mittelalterlichen Altstadt. Wäscheleinen, gackernde Hühner und Straßenhändler geben dem Viertel einen regelrecht idyllischen Anstrich.

Die engen Gassen geben dem Viertel ein besonderes Flair,
doch der Schein trügt

Die Kinder von Las Palmas blicken in eine
ungewisse Zukunft 


Die Dächer von Las Palmas

Eine hohe Mauer mit Stacheldraht trennt
das Viertel von einer Luxuswohngegend


Im Schatten der Mara

Die nüchterne Realität lässt sich in ‚Las Palmas‘ jedoch kaum verbergen. Die anhaltende wirtschaftliche Armut, die Enge, der Mangel an Wohnraum und Freiflächen, der himmelschreiende Kontrast zur Nachbarschaft und die systematische Vernachlässigung durch die öffentliche Hand haben ihre Spuren im Viertel hinterlassen. Das ‚Barrio 18‘, die blutrünstigste der salvadorianischen Straßengangs oder ‚Maras‘ hat Las Palmas fest im Griff. 

Viele Jugendliche haben in der mafiaähnlichen Organisation über die Jahre hinweg Schutz, Geborgenheit und Anerkennung gefunden. Die Gang ist ihre neue Familie geworden. Mit Schutzgelderpressungen, Drogenhandel und Raubüberfällen sichert sich die Bande das Auskommen und schaltet mit bestialischer Gewalt ihre Gegner aus. In Las Palmas bestimmen die ‚Mareros‘, wie die Bandenmitglieder hier genannt werden, wer rein und raus darf. Sie sind überall, sehen alles, wissen alles. 

Die Menschen in Las Palmas leben permanent im Schatten der ‚Mara‘. Auch wenn sie theoretisch deren Schutz genießen, können sie selten ruhig schlafen. Wer den wöchentlichen Schutzzoll nicht bezahlen kann oder  der ‚Mara‘ sonstige Gefallen verweigert bezahlt den Ungehorsam leicht mit dem Leben. 

„Das Absurde an alledem ist, dass die ‚Maras‘ ihre eigenen Leute terrorisieren“, erklärt mir Omar, ein Jugendlicher, der San Salvador aufgrund von Morddrohungen verlassen musste. Es sind zumeist die Armen selbst, die auf den Straßen sterben, während man in den gutbewachten Residenzvierteln das grausame Geschehen, wenn überhaupt, nur in den Abendnachrichten verfolgt.

Die Antwort des Staates auf das Problem trägt Kampfanzüge und Sturmmasken und versucht mit schwerer Kriegsbewaffnung der Lage Herr zu werden. Man scheint, trotz der Lektionen aus der jüngsten Geschichte, noch immer nicht begriffen zu haben, dass Gewalt nur noch mehr Gewalt erzeugt. Die großangelegten Polizei- und Militäreinsätze treffen häufig auch Unschuldige. 

In ‚Las Palmas‘ waren dies vergangenen Monat der einundzwanzigjährige Alvin und drei weitere Jugendliche, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielten. Alvin stand an jenem Abend unter der offenen Haustüre und telefonierte mit seiner Freundin als ihn ein Sondereinsatzkommando der Polizei überraschte, die Beamten ihn brutal zu Boden schlugen und ihm Handschellen anlegten. 

Gemeinsam mit drei Nachbarsjungen muss er sich nun als Bandenmitglied vor Gericht verantworten. Die Anklage lautet: unerlaubter Besitz und Führen von Kriegswaffen. In den Zeitungen war zu lesen, die Jugendlichen hätten auf dem Bolzplatz des Viertels Militärübungen mit Maschinengewehren durchgeführt und wären gefährliche Kriminelle.

Alvins Familie, Nachbarn, Freunde und Mitglieder der Kirchengemeinde, die der Junge regelmäßig besuchte, versichern Alvin sei kein Verbrecher. Er studierte an der Universität, arbeitete als Kellner in einem Restaurant und spielte für sein Leben gern Fußball im FC Roma, der Mannschaft des Nachbarviertels. Was war also geschehen? 

So wurden Alvin und seine Kameraden in der
Presse vorgeführt


Die Situation der Menschenrechte ist kritisch

Das renommierte Menschenrechtsinstitut der Zentralamerikanischen Universität von San Salvador (UCA) begleitet den Fall und leistet Alvins Familie Rechtsbeistand. Luis Monterrosa, der Direktor des Instituts war selbst bei der ersten Anhörung zugegen und bestätigt im Interview, dass laut Indizienlage die Jugendlichen keinerlei kriminellen Hintergrund aufwiesen und höchstwahrscheinlich Opfer staatlicher und medialer Willkür seien. 

Laut Monterrosa sei dies einerseits auf die nach wie vor mächtigen Militärs und die korrupte Polizeibehörde zurückzuführen, die Erfolgsgeschichten brauchten um ihren repressiven Kurs politisch zu rechtfertigen. Andererseits sei in den letzten Monaten zu beobachten, wie die großen Medienkonzerne die neue Gewaltwelle in El Salvador ausnutzten und zu einer erhöhten Verunsicherung in der Bevölkerung beitrügen. 

Hinter diesen beiden Tendenzen stehen, so Monterrosa, „mächtige Sektoren der Gesellschaft, bestehend aus Teilen der politischen Opposition, den alten Eliten aus Bürgerkriegszeiten und einflussreichen Unternehmerfamilien, die der demokratisch gewählten, linksorientierten Regierung um jeden Preis die Glaubwürdigkeit entziehen wollen“. Es sind große Namen. Namen die jeder kennt und die dennoch keiner nennt. Ihre rechtsradikalen Parolen und repressiven Methoden beginnen wieder auf mehr Echo in der salvadorianischen Gesellschaft zu stoßen.

Die Menschen in El Salvador haben genug von Gewalt und Terror. Rufe nach der Wiedereinführung der Todesstrafe werden laut. Vermummte Killerkommandos üben immer häufiger Selbstjustiz in Problembezirken. Trotz der Brisanz der Lage hat die seit Juni dieses Jahres amtierende neue Regierung bislang keinerlei Handlungsstrategie präsentiert, wie sie mit dem Problem umgehen will. 

Luis Monterrosa ist besorgt über die aktuellen Entwicklungen sowohl im Fall Alvin als auch auf nationaler Ebene. „Die anhaltende Gewaltwelle in El Salvador ist nicht schlicht auf kriminelle Delikte zu reduzieren, sondern ist Symptom eines tieferliegenden sozialen Problems. Finanzielle Armut und gesellschaftliche Exklusion spielen hier eine zentrale Rolle. Wir müssen den sozialen und strukturellen Charakter des Problems endlich erkennen und Lösungen finden. Was wir brauchen ist nicht die harte Hand, sondern einen gesamtgesellschaftlichen Dialogprozess und nachhaltige und koordinierte Präventionsarbeit“, fordert Menschenrechtler Monterrosa.

Alvin sitzt derweil auf dem Revier Monserrat in Untersuchungshaft. Er ist nur einer von vielen salvadorianischen Jugendlichen deren einziges Verbrechen es ist arm zu sein. Der nächste Verhandlungstag ist in voraussichtlich sechs Monaten und sollte Alvin für schuldig befunden werden, drohen ihm rund 8 Jahre Haft.


Zirkus für den Frieden

Als an diesem Samstagnachmittag Pappnasen und Lachsalven das Zentrum von ‚Las Palmas‘ fest im Griff haben ist von Polizeigewalt, Verbrecherbanden und Medienrummel keine Spur. Die Stimmung ist gelöst, heiter und selbst die aufziehenden Gewitterwolken treten unverrichteter Dinge den Abzug an.

Der Zirkus von Las Palmas ist kein gewöhnlicher Zirkus. Er hat kein Zirkuszelt, keinen Direktor, keine Weltsensationen. Es ist Zirkus der Straße, ein Zirkus auf dem Weg. Seine Clowns und Artisten sind Jungen und Mädchen aus dem Viertel ‚Las Palmas‘, die bis vor einem Jahr noch nie einen Jonglierball in der Hand oder gar ein Clown Kostüm anhatten. 

‚Las Palmas‘ hat keine gute Presse. Wenn das Viertel in den Nachrichten ist, dann in Verbindung mit Drogenrazzien und Mordfällen, wie der Fall von Alvin und seinen Freunden zeigt. Dies schlägt sich auch im Selbstwertgefühl der Bewohner nieder. Alles „Eigene“ ist hier schlecht. Man orientiert sich nach draußen um zu überleben, man muss raus aus dem Viertel, um jemand werden zu können. 

Der Zirkus von Las Palmas beweist auf spielerisch einfache Weise das Gegenteil. „Hier im Zirkus können wir gemeinsam entdecken und zeigen was wir können und, dass wir sehr wohl wer sind“, schwärmt Zirkusmitbegründer Francisco Bosch im Interview. Vor etwa neun Monaten hat der junge Argentinier und Anwohner von Las Palmas gemeinsam mit Freunden das Projekt ins Leben gerufen. 

Seitdem übt die bunte Truppe regelmäßig auf dem Pausenhof der Quartiersschule. Jeder kann mitmachen. „Wir fangen mit drei Jonglierbällen an und lernen Stück für Stück dazu. Wer etwas Neues kann, bringt es den Anderen bei und so lernen wir gegenseitig voneinander und haben vor allem viel Spaß.“

Die Jugendlichen haben nicht das Ziel möglichst professionell oder berühmt zu werden. Kern der Zirkusphilosophie ist es vielmehr gemeinsam zu lernen und zu wachsen. Die öffentlichen Aufführungen sind dennoch wichtig. Sie stärken einerseits das Selbstvertrauen der jungen Artistinnen und Artisten, und zeigen dem Publikum, dass in Las Palmas nicht nur Nichtsnutze und Kriminelle leben, sondern auch echte Künstler. 

Bosch betont, dass er den Zirkus nicht in erster Linie als Projekt zur Gewaltprävention sieht. „Wenn man von Prävention spricht, legt man den Fokus wieder auf die Gewalt“, erklärt er. „Zirkus hingegen heißt Körperkontakt, Spiel, Begegnung mit dem Anderen. So, glauben wir, fängt Friede an und am Ende besiegen wir damit tatsächlich die Gewalt, auch wenn das nicht unser vordergründiges Ziel ist.“ „Was wir versuchen“, fügt er hinzu, “sicher nicht ohne Hindernisse und Irrungen, ist es mit der Kunst Wege zu eröffnen und Alternativen zur alltäglichen Gewalt zu leben“.

Als an diesem frühen Samstagabend die letzte Keule gekonnt in die Hand ihres Jongleurs gefallen ist, und der tosende Beifall und die Bravorufe verstummt sind, gehen die Menschen von ‚Las Palmas‘ mit einem Lächeln nach Hause. Das Joch der Gewalt drückt weiterhin schwer auf El Salvador. Daran können auch Initiativen wie der Jugendzirkus wenig ändern. 

Politische Maßnahmen und ein gesamtgesellschaftlicher Dialogprozess sind unumgänglich auf dem Weg zum sozialen Frieden in dem vom  Bürgerkrieg gezeichneten mittelamerikanischen Land. Was die Jugendlichen aus dem Elendsviertel im Herzen San Salvadors jedoch können und auf großartige Weise tun, ist es ihrem Land zu zeigen, dass seine Jugend nicht verloren ist, dass die junge Generation bereit ist an einer neuen, anderen Gesellschaft mitzubauen, und, dass drei Jonglierbälle nur der Anfang sind.

Drei Bälle für einen neue Welt
Die Truppe vom Circo de Las Palmas