Freitag, 24. April 2020

Ausnahmezustand. Ein Wort aus dem globalen Süden.*


Nationaler Notstand, Kriegsrecht, Einschränkung von Grundrechten, Grenzschließungen, Ausnahmezustand. Regierungen auf der ganzen Welt haben in den vergangenen Wochen und Monaten entsprechende Maßnahmen erlassen, um die Verbreitung von Covid-19 in ihren Gesellschaften so weit wie möglich einzudämmen.


So hat auch El Salvador am 11. März den nationalen Notstand ausgerufen und wenige Tage später den Ausnahmezustand (span.: „estado de excepción“).


Dass ich ausgerechnet auf El Salvador zu sprechen komme, hat zwei Gründe. Zum einen lebe ich mit meiner Familie seit nunmehr einigen Jahren in dem kleinsten Staat Mittelamerikas und arbeite am theologischen Institut der hiesigen Jesuitenuniversität (UCA). Zum anderen ist El Salvador tragischer Weise exemplarisch für viele typische Problemlagen eines sogenannten Entwicklungslandes. Der 1989 von einem Militärkommando ermordete spanisch-salvadorianische Jesuit und Befreiungstheologe Ignacio Ellacuría pflegte zu sagen, El Salvador sei wie ein Brennglas in dem sich die Probleme und Leiden der Welt bündeln.[1] Auch 30 Jahre nach seiner Ermordung ist diese Metapher noch immer treffend. 


Das Land, das hinsichtlich seiner Fläche und Bevölkerung (rund 6,5 Millionen) ziemlich genau den Dimensionen von Hessen entspricht, hat eine der höchsten Mordraten weltweit. Seit Jahren werden im Durchschnitt zehn Menschen pro Tag ermordet. Besonders gravierend ist die Situation der Gewalt gegen Frauen. Dem zugrunde liegen eine historisch extrem ungleiche Verteilung des Reichtums in der Gesellschaft und eine konfliktreiche Geschichte. Der Großteil der Bevölkerung lebt in extremer Armut und jährlich machen sich Hunderttausende auf den gefährlichen Weg in Richtung USA auf der Suche nach einer Zukunft. Hinzu kommen Naturkatastrophen wie schwere Erdbeben, Vulkanausbrüche und die immer deutlicher spürbaren direkten Folgen des Klimawandels, wie etwa Überschwemmungen und lange Dürreperioden.


Was bedeutet vor diesem Hintergrund das Ausrufen des landesweiten Ausnahmezustandes aufgrund der Covid-19-Pandemie?


Hier muss vorab gesagt werden, dass lediglich rund 25% der Menschen in El Salvador in einem formalen Beschäftigungsverhältnis sind und Anspruch auf eine minimale Grundsicherung (Krankenversicherung, Rente) haben. Die verbleibenden 75% arbeiten im vorrangig städtischen informellen Sektor (Straßenhändler, informelle Dienstleistungen) oder in der Subsistenzlandwirtschaft.


Für die erste Gruppe bedeutet Ausnahmezustand, ähnlich wie in Deutschland, panikartige Hamsterkäufe (Toilettenpapier), ekstatische Weltuntergangsphantasien und Verschwörungstheorien in sozialen Netzwerken, Home-Office, Netflix, Lagerkoller.


Für die zweite Gruppe und damit für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, aber, bedeutet das Gebot „Bleib zu Hause!“ eine Prekarisierung der ohnehin schon prekären Lebensrealität,  ganz konkret, einen dramatischen Anstieg an häuslicher Gewalt und Hunger. Die inhumane Wohnsituation in den Armensiedlungen, wo kinderreiche Familien auf engstem Raum zusammenleben, macht die Quarantäne unerträglich. Zudem leben die meisten Familien in El Salvador „aus der Hand in den Mund“, d.h. von den spärlichen Einnahmen des Tagesgeschäfts. Fällt dieses aufgrund der Ausgangssperre aus, bleibt am Abend der Teller leer.

Eine verzweifelte Menge wartet vergeblich auf eine von der Regierung versprochene Hilfszahlung für bedürftige Familien am 30. März vor einem Regierungsgebäude in San Salvador. (Foto: La Prensa Gráfica)

Jeder Ausnahmezustand bezieht sich per definitionem auf einen irgendwie gearteten Normalzustand. Im diesem konkreten Fall beinhaltet der Ausnahmenzustand eine Suspension von in der salvadorianischen Verfassung verankerten Grundrechten, unter anderem die Bewegungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit. Inwiefern kann man jedoch von einem Ausnahmezustand sprechen in einer Gesellschaft in der sich die Mehrheit der Bürger auch unter „normalen“ Umständen nicht frei bewegen kann aus Angst vor Straßengangs, Polizei und Militärs, in der das Grundrecht auf einen würdigen Wohnraum nur auf dem Papier existiert und das Recht auf Wasserversorgung nicht einmal dort? Eine Ausnahme von welcher Regel besteht hier? 


Man kann diesen de facto permanenten Ausnahmezustand, im Sinne des italienischen Rechtsphilosophen Giorgio Agamben verstehen, als einen rechtsfreien Raum, der „seine raumzeitlichen Grenzen überschritten hat, sich außerhalb dieser ausbreitet und nun beginnt, sich mit der normalen Ordnung zu überschneiden, in der nun wieder alles möglich wird.“[2]


All dies schmälert keineswegs die Bedrohung durch die Covid-19-Pandemie, auch nicht in El Salvador. Die frühe und drastische Reaktion der Regierung auf die drohende Seuche ist zweifellos zunächst einmal begrüßenswert. Wenn man den offiziellen Zahlen Glauben schenken kann, so ist die Gefahr einer massiven Ausbreitung des Virus im Land vorerst weitgehend gebannt, die Kurve abgeflacht. Das mögliche Szenario einer größeren Infektionswelle möchte man sich angesichts eines desolaten Gesundheitssystems mit landesweit lediglich 200 Intensiv-Betten nicht ausmalen.


Doch die Salvadorianer sind Schreckensszenarien gewohnt. Und so scheinen viele es vorzuziehen die strikten Quarantäneregeln, trotz drastischer repressiver Maßnahamen von Seiten des Staates (30 Tage Quarantänelager zur Strafe), zu brechen und sich der Infektionsgefahr auszusetzen, um wenigstens ein paar lebensnotwendige Dollar verdienen zu können.


Die Diskussion um die Beibehaltung der Kontaktsperre gegenüber einer schrittweisen Rückkehr des öffentlichen Lebens, wie sie aktuell in vielen Ländern des Nordens geführt wird, hat im globalen Süden eine ganz eigene Brisanz. Es geht hier nicht vorrangig um die Abwägung, wie lange bestimmte Wirtschaftszweige einem „total lockdown“ standhalten können, schließlich sind die Volkswirtschaften hier permanent im Krisenmodus. Es gilt vielmehr, paradoxerweise, Menschenleben gegen Menschenleben aufzuwiegen, denn es ist zu befürchten, dass sehr viele Menschen an den wirtschaftlichen und sozialen Folgen dieser Krise erkranken und sterben werden, vielleicht sogar mehr, als durch das Virus selbst. Was bedeutet es hier von Lebensschutz zu sprechen? Während sich der reiche Norden in Krisenhysterie übt, können sich viele Länder im globalen Süden das „flattening the curve“ schlichtweg nicht leisten. Sie leben, in den Worten des portugiesischen Soziologen und prominenten Vertreters der dekolonialen Theorie, Boaventura de Sousa Santos, schlichtweg „südlich der Quarantäne“.[3]


So bedrohlich die Covid-19-Pandemie in Europa und Nordamerika sein mag, so ist sie in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas lediglich ein Übel mehr, neben Kriegen, Gewalt, Vertreibung, Hunger, Armut, Malaria, AIDS, Dengue-Fieber[4] und anderen.

Polizei und Militär kontrollieren die Zugänge des abgeriegelten Stadtzentrums von San Salvador, wo unter "normalen" Umständen täglicg rund 20.000 Straßenhändler ihre Waren anbieten. (Foto: Emerson Flores/Revista Gato Encerrado)


Es ist schwer in El Salvador an eine schrittweise Rückkehr in die Normalität zu denken. In welche Normalität sollen die Menschen zurückkehren, wenn eines Tages auch die Corona-Toten begraben sein werden? Ich fürchte die Kluft zwischen Nord und Süd wird nach Corona noch tiefer sein. Und ich fürchte, dass diese neue und verschärfte globale Notlage in der Post-Corona-Euphorie des Nordens mit der Wiederöffnung der Einkaufsmeilen und dem Ankurbeln der Konjunktur untergehen wird.

Wenn die Gesellschaften des Nordens bereits heute eines aus der Krise gelernt haben, dann wohl den Wert der Solidarität. Jedoch nur wenn es gelingt, diese Solidarität aus ihrer nationalen Kurzsichtigkeit zu heben und, im Kontext einer globalen Verantwortung auf die ganze Menschheit auszuweiten, werden wir als Menschheit wirklich aus der Krise gelernt haben. Ignacio Ellacuría mahnt an, dass die Gesellschaften der sogenannten Industrieländer sich nicht mit der Einhaltung der Menschenrechte schmücken  können, wenn diese Rechte effektiv nur einem geringen Teil der Weltbevölkerung zukommen. „Es ist die Menschheit, die frei sein muss und nicht einige wenige Privilegierte der Menschheit, seien dies Individuen, soziale Schichten oder Nationen.“[5]


Der deutsche Bundespräsident hat diesen Gedanken, bewusst oder unbewusst, in seiner Videobotschaft vom 26. März ausgedrückt: "Unsere Zukunft liegt nicht in Abschottung voneinander, sondern in geteiltem Wissen. So kann aus einem geteilten Leid eine gemeinsame Zukunft werden."[6] Steinmeiers Satz ist wahr, allerdings nicht nur in Bezug auf Covid-19. Er ist ebenso wahr angesichts des Hungers auf der Welt, den Flüchtlingsdramen an Europas Außengrenzen, deutschen Waffenexporten in Krisenregionen, Patenten deutscher Pharma-Konzerne auf indigene Heilmittel, europäischer Außenhandelspolitik, weltweitem Ressourcen-Raubbau, Klimazielen und vielem mehr.

Trotz aller Befürchtungen, bleibt eine leise Hoffnung, dass wir nach dieser Krise mehr Menschheit sein werden als zuvor.





*Eine gekürzte Fassung dieses Artikels wurde auf dem Covid-19-Blog des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik der Julius-Maximilians Universität Würzburg veröffentlicht: https://www.theologie.uni-wuerzburg.de/institute-lehrstuehle/prak/professur-fuer-christliche-sozialethik/startseite/fragmente-sozialethische-ueberlegungen-zu-covid-19/





[1] Mündliche Quelle, Jon Sobrino, S.J., Universidad Centroamericana José Simeón Cañas (UCA), El Salvador.


[2] Giorgio Agamben, Homo sacer. Sovereign power and bare life, Stanford University Press, Stanford, California, 1998, 28.



[4] Lateinamerika hat im Jahr 2019 mit mehr als 3 Millionen registrierten Fällen die schwerste Dengue-Epidemie seit Beginn der Aufzeichnungen erlebt:  https://www.bbc.com/mundo/noticias-51496280.


[5] Ignacio Ellacuría, „Utopie und Prophetie“, in: ders./Jon Sobrino (Hg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Bd. 1, Exodus Verlag, Luzern 1995, 383-431.