Nationaler
Notstand, Kriegsrecht, Einschränkung von Grundrechten, Grenzschließungen, Ausnahmezustand.
Regierungen auf der ganzen Welt haben in den vergangenen Wochen und Monaten
entsprechende Maßnahmen erlassen, um die Verbreitung von Covid-19 in ihren
Gesellschaften so weit wie möglich einzudämmen.
So
hat auch El Salvador am 11. März den nationalen Notstand ausgerufen und wenige
Tage später den Ausnahmezustand (span.: „estado de excepción“).
Dass
ich ausgerechnet auf El Salvador zu sprechen komme, hat zwei Gründe. Zum einen
lebe ich mit meiner Familie seit nunmehr einigen Jahren in dem kleinsten Staat
Mittelamerikas und arbeite am theologischen Institut der hiesigen
Jesuitenuniversität (UCA). Zum anderen ist El Salvador tragischer Weise
exemplarisch für viele typische Problemlagen eines sogenannten
Entwicklungslandes. Der 1989 von einem Militärkommando ermordete
spanisch-salvadorianische Jesuit und Befreiungstheologe Ignacio Ellacuría
pflegte zu sagen, El Salvador sei wie ein Brennglas in dem sich die Probleme
und Leiden der Welt bündeln.[1] Auch 30 Jahre nach seiner
Ermordung ist diese Metapher noch immer treffend.
Das
Land, das hinsichtlich seiner Fläche und Bevölkerung (rund 6,5 Millionen)
ziemlich genau den Dimensionen von Hessen entspricht, hat eine der höchsten
Mordraten weltweit. Seit Jahren werden im Durchschnitt zehn Menschen pro Tag
ermordet. Besonders gravierend ist die Situation der Gewalt gegen Frauen. Dem
zugrunde liegen eine historisch extrem ungleiche Verteilung des Reichtums in
der Gesellschaft und eine konfliktreiche Geschichte. Der Großteil der
Bevölkerung lebt in extremer Armut und jährlich machen sich Hunderttausende auf
den gefährlichen Weg in Richtung USA auf der Suche nach einer Zukunft. Hinzu
kommen Naturkatastrophen wie schwere Erdbeben, Vulkanausbrüche und die immer
deutlicher spürbaren direkten Folgen des Klimawandels, wie etwa Überschwemmungen
und lange Dürreperioden.
Was
bedeutet vor diesem Hintergrund das Ausrufen des landesweiten Ausnahmezustandes
aufgrund der Covid-19-Pandemie?
Hier
muss vorab gesagt werden, dass lediglich rund 25% der Menschen in El Salvador
in einem formalen Beschäftigungsverhältnis sind und Anspruch auf eine minimale
Grundsicherung (Krankenversicherung, Rente) haben. Die verbleibenden 75%
arbeiten im vorrangig städtischen informellen Sektor (Straßenhändler,
informelle Dienstleistungen) oder in der Subsistenzlandwirtschaft.
Für
die erste Gruppe bedeutet Ausnahmezustand, ähnlich wie in Deutschland,
panikartige Hamsterkäufe (Toilettenpapier), ekstatische
Weltuntergangsphantasien und Verschwörungstheorien in sozialen Netzwerken,
Home-Office, Netflix, Lagerkoller.
Für
die zweite Gruppe und damit für die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung,
aber, bedeutet das Gebot „Bleib zu Hause!“ eine Prekarisierung der ohnehin
schon prekären Lebensrealität, ganz
konkret, einen dramatischen Anstieg an häuslicher Gewalt und Hunger. Die
inhumane Wohnsituation in den Armensiedlungen, wo kinderreiche Familien auf
engstem Raum zusammenleben, macht die Quarantäne unerträglich. Zudem leben die
meisten Familien in El Salvador „aus der Hand in den Mund“, d.h. von den
spärlichen Einnahmen des Tagesgeschäfts. Fällt dieses aufgrund der
Ausgangssperre aus, bleibt am Abend der Teller leer.
Jeder
Ausnahmezustand bezieht sich per
definitionem auf einen irgendwie gearteten Normalzustand. Im diesem
konkreten Fall beinhaltet der Ausnahmenzustand eine Suspension von in der
salvadorianischen Verfassung verankerten Grundrechten, unter anderem die
Bewegungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit. Inwiefern kann man jedoch von einem
Ausnahmezustand sprechen in einer Gesellschaft in der sich die Mehrheit der
Bürger auch unter „normalen“ Umständen nicht frei bewegen kann aus Angst vor
Straßengangs, Polizei und Militärs, in der das Grundrecht auf einen würdigen
Wohnraum nur auf dem Papier existiert und das Recht auf Wasserversorgung nicht
einmal dort? Eine Ausnahme von welcher Regel besteht hier?
Man
kann diesen de facto permanenten
Ausnahmezustand, im Sinne des italienischen Rechtsphilosophen Giorgio Agamben
verstehen, als einen rechtsfreien Raum, der „seine raumzeitlichen Grenzen überschritten
hat, sich außerhalb dieser ausbreitet und nun beginnt, sich mit der normalen
Ordnung zu überschneiden, in der nun wieder alles möglich wird.“[2]
All
dies schmälert keineswegs die Bedrohung durch die Covid-19-Pandemie, auch nicht
in El Salvador. Die frühe und drastische Reaktion der Regierung auf die
drohende Seuche ist zweifellos zunächst einmal begrüßenswert. Wenn man den
offiziellen Zahlen Glauben schenken kann, so ist die Gefahr einer massiven
Ausbreitung des Virus im Land vorerst weitgehend gebannt, die Kurve abgeflacht.
Das mögliche Szenario einer größeren Infektionswelle möchte man sich angesichts
eines desolaten Gesundheitssystems mit landesweit lediglich 200 Intensiv-Betten
nicht ausmalen.
Doch
die Salvadorianer sind Schreckensszenarien gewohnt. Und so scheinen viele es
vorzuziehen die strikten Quarantäneregeln, trotz drastischer repressiver
Maßnahamen von Seiten des Staates (30 Tage Quarantänelager zur Strafe), zu
brechen und sich der Infektionsgefahr auszusetzen, um wenigstens ein paar
lebensnotwendige Dollar verdienen zu können.
Die
Diskussion um die Beibehaltung der Kontaktsperre gegenüber einer schrittweisen Rückkehr
des öffentlichen Lebens, wie sie aktuell in vielen Ländern des Nordens geführt
wird, hat im globalen Süden eine ganz eigene Brisanz. Es geht hier nicht
vorrangig um die Abwägung, wie lange bestimmte Wirtschaftszweige einem „total lockdown“ standhalten können,
schließlich sind die Volkswirtschaften hier permanent im Krisenmodus. Es gilt
vielmehr, paradoxerweise, Menschenleben gegen Menschenleben aufzuwiegen, denn
es ist zu befürchten, dass sehr viele Menschen an den wirtschaftlichen und
sozialen Folgen dieser Krise erkranken und sterben werden, vielleicht sogar mehr,
als durch das Virus selbst. Was bedeutet es hier von Lebensschutz zu sprechen? Während
sich der reiche Norden in Krisenhysterie übt, können sich viele Länder im
globalen Süden das „flattening the curve“
schlichtweg nicht leisten. Sie leben, in den Worten des portugiesischen
Soziologen und prominenten Vertreters der dekolonialen Theorie, Boaventura de
Sousa Santos, schlichtweg „südlich der Quarantäne“.[3]
So
bedrohlich die Covid-19-Pandemie in Europa und Nordamerika sein mag, so ist sie
in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas lediglich ein Übel mehr,
neben Kriegen, Gewalt, Vertreibung, Hunger, Armut, Malaria, AIDS, Dengue-Fieber[4] und anderen.
Es
ist schwer in El Salvador an eine schrittweise Rückkehr in die Normalität zu
denken. In welche Normalität sollen die Menschen zurückkehren, wenn eines Tages
auch die Corona-Toten begraben sein werden? Ich fürchte die Kluft zwischen Nord
und Süd wird nach Corona noch tiefer sein. Und ich fürchte, dass diese neue und
verschärfte globale Notlage in der Post-Corona-Euphorie des Nordens mit der
Wiederöffnung der Einkaufsmeilen und dem Ankurbeln der Konjunktur untergehen
wird.
Wenn
die Gesellschaften des Nordens bereits heute eines aus der Krise gelernt haben,
dann wohl den Wert der Solidarität. Jedoch nur wenn es gelingt, diese
Solidarität aus ihrer nationalen Kurzsichtigkeit zu heben und, im Kontext einer
globalen Verantwortung auf die ganze Menschheit auszuweiten, werden wir als
Menschheit wirklich aus der Krise gelernt haben. Ignacio Ellacuría mahnt an,
dass die Gesellschaften der sogenannten Industrieländer sich nicht mit der
Einhaltung der Menschenrechte schmücken können,
wenn diese Rechte effektiv nur einem geringen Teil der Weltbevölkerung
zukommen. „Es ist die Menschheit, die frei sein muss und nicht einige wenige
Privilegierte der Menschheit, seien dies Individuen, soziale Schichten oder
Nationen.“[5]
Der
deutsche Bundespräsident hat diesen Gedanken, bewusst oder unbewusst, in seiner
Videobotschaft vom 26. März ausgedrückt: "Unsere
Zukunft liegt nicht in Abschottung voneinander, sondern in geteiltem Wissen. So
kann aus einem geteilten Leid eine gemeinsame Zukunft werden."[6] Steinmeiers Satz ist wahr, allerdings nicht nur in Bezug auf Covid-19. Er
ist ebenso wahr angesichts des Hungers auf der Welt, den Flüchtlingsdramen an
Europas Außengrenzen, deutschen Waffenexporten in Krisenregionen, Patenten
deutscher Pharma-Konzerne auf indigene Heilmittel, europäischer
Außenhandelspolitik, weltweitem Ressourcen-Raubbau, Klimazielen und vielem
mehr.
Trotz aller
Befürchtungen, bleibt eine leise Hoffnung, dass wir nach dieser Krise mehr
Menschheit sein werden als zuvor.
*Eine gekürzte Fassung dieses Artikels wurde auf dem Covid-19-Blog des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik der Julius-Maximilians Universität Würzburg veröffentlicht: https://www.theologie.uni-wuerzburg.de/institute-lehrstuehle/prak/professur-fuer-christliche-sozialethik/startseite/fragmente-sozialethische-ueberlegungen-zu-covid-19/
[1] Mündliche
Quelle, Jon Sobrino, S.J., Universidad Centroamericana José Simeón Cañas (UCA),
El Salvador.
[2] Giorgio
Agamben, Homo sacer. Sovereign power and bare life, Stanford University
Press, Stanford, California, 1998, 28.
[4] Lateinamerika hat
im Jahr 2019 mit mehr als 3 Millionen registrierten Fällen die schwerste
Dengue-Epidemie seit Beginn der Aufzeichnungen erlebt: https://www.bbc.com/mundo/noticias-51496280.
[5] Ignacio Ellacuría, „Utopie und
Prophetie“, in: ders./Jon Sobrino (Hg.), Mysterium
Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Bd. 1, Exodus
Verlag, Luzern 1995, 383-431.