Sonntag, 22. September 2013

Alternativlos.


ICH: Hey Jaimito, wie gehts dir?

JAIMITO: Läuft, und selbst? Wohin denn so eilig?

ICH: Ach, nicht der Rede wert. Muss eben noch zum Wahllokal
meine Stimme abgeben. Heute ist doch Wahl in Deutschland
weißt du.

JAIMITO: Tatsächlich? Kann man bei euch das Deutschland wählen, das
man gerne hätte? Wen wählst du denn?

ICH: Weiß noch nicht. Ist auch egal, ändern wird sich ohnehin
nicht viel. Laut unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel ist die
Situation in Deutschland „alternativlos“.

JAIMITO: Ach herrje, das ist ja schrecklich! Wir wissen nur zu gut was
das bedeutet. In unserem Land ist das auch so. Wer
Alternativen fordert wird gefoltert. Wer sich gewerkschaftlich
organisiert wird gefeuert. Wer kein Geld hat, existiert nicht.

ICH: Nein. Nein. Jaimito du verstehst mich falsch. In Deutschland
leben wir in einer Demokratie. Alle haben das Recht frei ihre
Meinung zu äußern. Alle Kinder können die Schule besuchen
und wer keine Arbeit hat, wird vom Staat unterstützt. Die
Wirtschaft boomt. Deutschland ist Exportweltmeister. Den
meisten Deutschen geht es sehr gut. Daran möchte niemand
etwas ändern. Alternativlos gut eben.

JAIMITO: Das ist ja merkwürdig. Das Deutschland hier, das wir kennen,
ist anders. Meine Mama arbeitet dort in einer Kleiderfabrik. Sie
ist Näherin. Sie näht Etiketten mit der Aufschrift „Hergestellt in
Deutschland“ in Wintermäntel. In deinem Deutschland muss
es ja ganz schön kalt sein. Meine Mama wird auch nicht vom
Staat unterstützt. Wenn sie auf die Toilette muss, wird sie
angeschrien, wenn sie nicht schnell genug, arbeitet wird ihr
der Lohn gekürzt. Das muss so sein, sagt ihr Chef. Die
deutschen Unternehmen machen Preisdruck. Freie
Marktwirtschaft, nennt er das. Sie soll froh sein, dass sie
Arbeit hat. Das hat sie wahrlich genug, 16 Stunden am Tag.

ICH: Das ist ja traurig. Aber Kopf hoch Jaimito, das wird schon. In
Deutschland ist das eine absolute Ausnahme.

JAIMITO: In unserem Deutschland nicht. Mein Papa arbeitet in einer
Goldmine, die vor einigen Jahren bei uns hinterm Dorf
aufgemacht hat. Früher war er Bauer, aber eines Tages kamen
Männer in schwarzen Uniformen und mit großen Gewehren
und nahmen meiner Familie das Land weg. Sie sagten, wir
können ja in der Mine arbeiten. Das ist gute Arbeit und bringt
Entwicklung. Der Goldhandel läuft so gut wie nie auf dem
Weltmarkt. Krisenzeiten, sagen sie. Entwickelt hat sich
tatsächlich viel seither. Mein Papa leidet an Asthma, wegen
der Schwermetalle denen er täglich in der Mine ausgesetzt ist.
Der Fluss, in dem wir früher badeten und Fische fingen hat
jetzt keine Fische mehr, aber dafür hat das Wasser jetzt eine
lustige gelbe Farbe. Viele meiner Klassenkameraden haben
komische Ausschläge auf der Haut und der Mais den wir früher
anbauten wächst jetzt nicht mehr, weil meist schon die Saat
von den zunehmenden Überschwemmungen weggespült wird.

ICH: Das tut mir leid Jaimito. Aber das kann unmöglich Deutschland
sein.

JAIMITO: Doch, doch! Ganz sicher! Am Eingang der Mine steht auf
einem großen Schild: Hauptinvestor - Deutsche Bank,
Leistung aus Leidenschaft.

ICH: Hmmm… aber warum reicht ihr keine Beschwerde beim
Landratsamt ein oder protestiert wie wir Wut-Bürger vor dem
Bundestag?

JAIMITO: Bei den Behörden hört uns keiner zu und protestieren…
[Jaimito schluchzt] Ich hatte einen großen Bruder. Er ging
mit vielen anderen Männern und Frauen aus meinem Dorf auf
die Straße, um friedlich unsere Rechte einzufordern. Sie haben
ihn erschossen mit einem Sturmgewehr von Heckler & Koch,
Made in Germany. Es waren unsere Polizisten, ausgebildet von
einem Expertenteam der deutschen Bundespolizei, zur
Friedenssicherung.

ICH: Jaimito, ich weiß nicht was ich sagen soll. Aber immerhin
kannst du ja später einen guten Beruf erlernen oder studieren,
um die Dinge in deinem Dorf zu verbessern. Streng dich nur
an in der Schule und du wirst sehen.

JAIMITO: In die Schule gehe ich schon seit drei Jahren nicht mehr. Ich
muss auf meine kleinen Geschwister aufpassen und arbeite
auf dem Markt als Schuhputzer. So verdiene ich uns
wenigstens ein warmes Mittagessen. Um mehr Schulen zu
bauen und gute Lehrer einzustellen hat der Staat kein Geld.
Dein Deutschland und andere Länder verlangen von unserer
Regierung Wirtschaftswachstum, damit wir die Zinsen von
dem zurückzahlen können, was wir euch schulden.
Auslandsschuld glaube ich heißt das. Mein Papa sagt, diese
Schulden sind ungerecht. Ihr habt uns auch nicht
zurückgezahlt, was ihr uns in der Kolonialzeit und in all den
Kriegen gestohlen habt. Aber wenn er das laut sagt, verhaften
sie ihn.

ICH: Jaimito, das sind ja schreckliche Dinge die du da erzählst.
Merkwürdig, dass das Deutschland sein soll. Das muss ja ein
ganz versteckter Winkel im Land sein, habe ich doch all die
Jahre nie etwas davon mitbekommen. In den Nachrichten hört
man davon nichts und auch die Politiker reden nur über
Steuerreformen und Rettungsschirme für Banken. Wo liegt
denn euer Deutschland genau?

JAIMITO: Unser Deutschland liegt in den Minen von Peru, in den
Schützengräben des Kongo, auf den Palmölplantagen Borneos
und Sumatras. Es herrscht in den Fabrikhallen von
Bangladesch und El Salvador und grast auf den Rinderfarmen
in Brasilien. Aber unser Deutschland ist auch ganz nah bei dir.
Es fährt auf deinen Autobahnen, vibriert in deiner
Hosentasche, hält dich warm im Winter, liegt in deinen
Banktresoren und steht im Kühlregal deines Supermarktes. Es
ist da, aber du willst es nicht sehen. Viele von uns beginnen
sich zu fragen, wo denn alles hingeht, was vorher bei uns war.
Wenn es bei uns auf einmal so wenig gibt, muss es doch einen
Ort geben, an dem es viel gibt. Sie machen sich auf die Suche.
Andere wollen nicht weggehen von ihrem Land, aber sie
können nicht bleiben, denn dort gibt es nichts mehr für sie.
Sie kommen jeden Tag in dein Deutschland zu hunderten,
tausenden, auf selbstgezimmerten Booten über das
Mittelmeer, mit Schlepperbanden, Menschenhändlern, zu Fuß.
Sie sind da, aber du willst sie nicht sehen.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hast du Recht. Dieses
Deutschland ist alternativlos. Wir haben keine Wahl…

Wir haben die Wahl, jeden Tag.
Übernehmen Wir Verantwortung, jeden Tag!
Geben Wir Jaimito eine Stimme, jeden Tag!


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