Montag, 7. Oktober 2013

Auf dem Weg nach Norden (II) - Im Visier der 'Mara'

(Fortsetzung des Beitrags "Auf dem Weg nach Norden (I)")

Es ist Nachmittag in der Albergue „Hermanos en el Camino“ von Ixtepec.  Einer jener Nachmittage, von denen, trotz dem fast pedantisch durchstrukturierten Tagesablauf, zwischen Essenszeiten, Wasch- und Duschplan, Kleiderausgabe und Internetstunde, keiner dem anderen gleicht. Jeder Tag erzählt hier eine neue Geschichte, die sich in ihrem je eigenen Reigen aus Tragik und Hoffnung von jeder anderen abhebt und die Eintönigkeit des ewig gleichen Heute durchbricht. Keine dieser Geschichten wird auf der großen Bühne aufgeführt. Sie alle spielen in einer finsteren Nische, im Schatten von Angst und Scham. Keine einzige drängt sich auf, aber sie alle wollen gehört werden, wenngleich das Publikum spärlich und Logen leer.

Dieser Tag würde mir die Geschichte von Bryan* erzählen. Bryan ist Migrant, der, auf dem Weg nach Norden, nichts Geringeres als nach Süden will.


An diesem Nachmittag soll ich Ordnung in die Kleiderkammer bringen, wo täglich Kleidung an Migranten ausgegeben wird, die kaum das Nötigste am Leib tragen. Am Vortag ist eine beachtliche Kleiderspende, aus einer benachbarten Pfarrgemeinde eingetroffen. Schuhe, Hemden, Blusen, Hosen, Mützen und Jacken, alles durcheinander, füllen die schwarzen Plastiksäcke bis zum Bersten. Das Chaos ist vorprogrammiert, wenn in einer Stunde die Migranten Schlange stehen würden zur Kleiderausgabe. Um dies zu vermeiden müssen die Kleidungsstücke sortiert, klassifiziert und in die entsprechenden Regale geräumt werden. Ein junger Migrant, der mir in der vergangen Tagen immer wieder begegnet ist, soll mir dabei zur Hand gehen.


Auf der Hälfte des ersten Sackes, zwischen einem Windblouson und einer Damenhose frage ich ihn: „Wie heißt du eigentlich?“ „Ich bin Bryan“, kommt sogleich seine Antwort. „Und woher kommst du?“, will ich weiter wissen. Bryan ist aus San Salvador. Ich kann mir das Lächeln nicht verkneifen. „Aus San Salvador? Da wohne ich auch.“ Bryan schaut mich ungläubig an. Doch als ich ihm erzähle, dass ich eigentlich aus Deutschland komme und ihn darüber aufkläre, was mich in seine Heimat geführt hat, taut er langsam auf.


„Bist du auch auf dem Weg in die USA?“, frage ich und bereue es im gleichen Augenblick, bin ich mir doch der vermeintlichen Redundanz der Frage bewusst. „Nein“, antwortet Bryan nur. Ich blicke auf. „Ich bin nur hier, weil ich zu Hause nicht mehr sein kann.“


Ich lege das T-Shirt, das ich gerade falte, beiseite und setze mich auf einen Kleidersack. „Das verstehe ich nicht.“ Bryan lächelt bedrückt, setzt sich ebenso nieder und beginnt zu erzählen.


Bryan lebt bereits seit zwei Monaten in der Herberge „Hermanos en el Camino“. Hier feierte er seinen 18. Geburtstag, seine Volljährigkeit, gewiss anders als er es sich vorgestellt hatte. Bryan kommt aus bescheidenen Verhältnissen und wohnte mit seiner Mutter, seiner älteren Schwester und ihrem zweijährigem Sohn in Mejicanos, einem Bezirk am Stadtrand von San Salvador. Sein um drei Jahre älterer Bruder wohnt in einem anderen Viertel ganz in der Nähe.


Mejicanos ist in den letzten Jahren immer stärker ins Fadenkreuz des Bandenkrieges zwischen der ‚Mara Salvatrucha‘ und dem ‚Barrio 18‘ geraten. Hier war es wo Bandenmitglieder im Jahr 2010 einen Linienbus überfallen und in Brand gesetzt haben. 14 Menschen kamen dabei ums Leben.


Bryan ist hier aufgewachsen, kennt viele der heutigen Bandenmitglieder noch aus Kindertagen. Er geht zur Schule, ein Jahr fehlt im noch, um das Bachillerato, das salvadorianische Abitur, abzuschließen. Danach will er studieren, am liebsten Jura, um sich einzumischen und die Situation seines Volkes zu verbessern. Er ist ein wacher und intelligenter Jugendlicher.


Doch es sollte anders kommen. Eines Abends, zu Hause, klingelt das Telefon. Bryan hebt ab. Am anderen Ende der Leitung eine unbekannte Männerstimme: „Pass auf Kleiner, entweder du wirst einer von uns oder du bist tot. Du hast die Wahl. Wir melden uns wieder.“ Bryan starrt ins Leere. Er weiß Bescheid. Bereits seit Längerem rekrutiert die ‚Mara Salvatrucha‘ auf diese Weise ihren Nachwuchs, besonders aus armen und zerrütteten Familien.


Viele Jungs in seinem Alter schließen sich den Banden an. Sie sehen darin die einzige Perspektive, dem Teufelskreis der Armut zu entkommen. In der ‚Mara‘ finden sie Anerkennung, Geborgenheit und Identität. 

Bryan will kein Bandenmitglied werden. Das weiß er ganz sicher. Wer in eine Bande eintritt muss morden, erpressen und vergewaltigen und findet früher oder später den sicheren Tod. Er hängt den Hörer auf und tritt unters Fenster. Er atmet tief ein und wieder aus.


An diesem Abend spricht er mit niemandem über den anonymen Telefonanruf. Er denkt nach, schläft kaum in dieser Nacht. Alpträume quälen ihn. Am nächsten Morgen fährt er zu seinem Bruder, erzählt diesem alles. Eines ist beiden klar, leere Drohungen spricht die ‚Mara‘ niemals aus. Zu viele Jugendliche aus dem Viertel haben in den letzten Jahren bereits das Leben verloren.


Bryan muss verschwinden. Doch wohin? Die ‚Mara‘ hat ihre Augen überall. Dank eines eng gestrickten Netzes aus Kontaktleuten und einer Kommunikationsstruktur, die Geheimdienste vor Neid erblassen lassen, spüren die Banden einen Fein im letzten Winkel des Landes auf. Und jeder der nicht auf ihrer Seite steht ist automatisch ihr Feind. Bryan muss das Land verlassen.


Sein Bruder hatte sich bereits einmal auf den Weg nach Norden gemacht und kennt daher die Herberge „Hermanos en el Camino“ sowie den Padre Solalinde in Mexiko. Da wäre Bryan erst einmal sicher. Man würde ihm weiterhelfen. Bryan spricht mit seiner Mutter über das Vorgefallene. So schwer es ihr fällt, sie sieht auch keinen anderen Ausweg.


Für Abschied bleibt kaum Zeit, die ‚Mara‘ darf nichts von den Fluchtplänen mitbekommen. Bryan packt nur das Nötigste in seinen kleinen Rucksack, Kleidung, ein wenig Geld, ein Bild von seinem kleinen Neffen. Am nächsten Morgen macht er sich, gemeinsam mit seinem Bruder auf nach Mexiko. Dieser kennt die Tücken und Gefahren des Weges und würde ihn, einen Minderjährigen, der zum ersten Mal das Land verlässt, bis nach Ixtepec begleiten.


Zurück lässt Bryan seine Familie, das Viertel in dem er aufgewachsen ist, seine Freunde, sein Heimatland. Er ist auf der Flucht. Zeit darüber nachzudenken hat er kaum. Mit dem Bus geht es durch El Salvador und Guatemala, mit dem Floß illegal über die Grenze nach Mexiko. Dort folgen tagelange Gewaltmärsche durch das Niemandsland des mexikanischen Südens, dann der Zug, „die Bestie“. Wie durch ein Wunder kommt Bryan nach zwei Wochen unbeschadet in Ixtepec an.


Hier wird er wohlwollend aufgenommen. Man hört ihm zu. Nach wenigen Tagen stellt er mit der  Unterstützung der Sozialarbeiter der Herberge einen Asylantrag im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Der Prozess würde Monate dauern und solange darf Bryan den Bundesstaat nicht verlassen. Wo soll er auch hingehen? Er kennt niemanden in diesem fremden Land.


Bryan öffnet einen neuen Plastiksack und stapelt die gebrauchten Turnschuhe paarweise im Regal. „Das Schlimmste ist, dass ich wahrscheinlich nie wieder in mein Land zurückkehren kann und nicht weiß ob ich jemals meine Familie wieder sehen werde“, bringt er trocken hervor. „Ich wollte die Schule abschließen und studieren. Aber alles kam anders, von einem Tag auf den Anderen. Ich vermisse meine Familie so sehr. Hier fühle ich mich leer, fremd. Ich kann nichts tun, nur warten.“


Von Nichtstun kann bei Bryan keine Rede sein. Der Achtzehnjährige hilft mit wo er kann. Lange Stunden assistiert er unermüdlich der pensionierten Ärztin im Behandlungszimmer, die auf freiwilliger Basis kleinere Verletzungen und sonstige Leiden der Migranten kuriert. Er hilft beim Ausbau der Herberge mit und wie an diesem Tag beim Sortieren der Kleiderspenden.


Die Ordensschwestern haben den Kontakt zu einer Familie im Norden Mexikos hergestellt, wo Bryan, sobald sein Asylantrag genehmigt ist, vielleicht unterkommen kann. Dort würde er das ‚Bachillerato‘ nachholen und studieren können.


Bryans Geschichte macht mich einmal mehr sprachlos. Ein Jugendlicher, der so plötzlich und mit Gewalt aus seinem gewohnten und geliebten Umfeld gerissen wird, der alles zurück lassen muss, seine Familie seine Freunde und seine Träume. Doch Bryan gibt nicht auf. Er ist voller Hoffnung. Bereits einmal ist er knapp dem Tod entkommen. Nun ist er bereit alles zu geben, für das Leben und für seine Zukunft.


Ich kann Bryans Mut und Entschlossenheit nur tiefste Bewunderung entgegenbringen. Er selbst weiß, dass noch viele Hürden zu nehmen sind, bis sein Leben auch nur annähernd wieder in geordneten Bahnen laufen wird. Doch ich bin überzeugt, dass er es schaffen wird.


Die Geschichte von Bryan ist kein Einzelfall. Unzählige Jugendliche geraten jeden Tag ins Visier der ‚Maras‘ von El Salvador, Honduras oder Guatemala. Viele geraten in ihre Fänge oder finden den Tod, was letztlich das gleiche ist. Viele haben nicht den Mut von Bryan und haben keine Familie, die sie unterstützt und die um sie weint. Viele verlassen Tag für Tag ihr Heimatland, auf der Flucht ein Leben ohne Gewalt und ohne Angst.




*Aus Respekt und zum Schutz der Migranten wurden alle Namen verändert.



Zur Kleiderausgabe in der Kleiderkammer

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