Freitag, 22. März 2013

Eine Hoffnung die nicht abwartet

Gleichmäßig, fast einschläfernd, begleitet von einem leisen Surren drehen sich die Rotorblätter des Ventilators an der Decke der "Pescadería", wo ich wie so oft in der angenehmen Gesellschaft meiner quirligen Nachbarinnen die Mittagspause verbringe, wenn die Hitze draußen einem den Atem nimmt. Die Stoßzeit ist vorüber, die meisten Gäste sind gegangen, die Angestellten machen die Kasse und räumen auf. Im schattigen Restaurant nur ich und der sich unermüdlich drehende Ventilator. In diesem Dämmerzustand sehe ich die vergangene Woche nocheinmal vorüberziehen.

"Ya basta de sufrimiento para el Pueblo", ruft eine bunte Menschenmenge, die sich durch die engen Straßen des Zentrums von San Salvador schiebt und riesige Transparente im kühlen Abendwind wehen lässt...

Der März ist für die Salvadoreños in vieler Hinsicht ein bedeutender Monat. Die Mango Saison beginnt, die Studenten kehren an die Universitäten zurück, die Ferien der Semana Santa (Karwoche) stehen bevor und zu den Zeiten des Bürgerkriegs war merkwürdigerweise stets der März der ereignisreichste Monat, weshalb viele Gedenkveranstaltungen stattfinden. Zum bedeutendsten Datum in diesem Monat und vielleicht im ganzen Jahr für das salvadorianische Volk möchte ich hier ein wenig weiter ausholen. Am 24. März feiert das ganze Land den 33. Todestag seines größten Helden, Heiligen, Propheten und Märtyrer, Óscar Arnulfo Romero. - Wer war Romero? Diese Frage zu beantworten, ohne auf die Geschichte, die soziale und politische Realität El Salvadors zu seiner Zeit einzugehen ist unmöglich. Zu eng ist seine Person mit diesem Land und seinen Menschen verwoben.
Das 20. Jahrhundert stand in El Salvador weitestgehend im Schatten zahreicher grausamer Militärdiktaturen. Das Land und die Macht lag in den Händen einiger weniger reicher Familien in deren Sklaven- und Feudaldienst das restliche Volk stand. Das Militär sicherte die Sicherheit und die Privilegien dieser Oligarchie. Zahlreiche Massaker, u. a. die nahezu vollständige Ausrottung der indigenen Bevölkerung in den 30er Jahren überschatteten das Land. In den 1970er Jahren nach einer weitgehenden Industrialisierung, wachsender Armut in den Städten und stärker werdenden Gewerkschaften und sozialen Bewegungen nahmen die staatliche Repression und Gewalt stetig zu. Die Führungsriege fürchtete um ihre Macht. Die katholische Kirche, der so gut wie die gesamte Bevölkerung angehörte, stand traditionell auf der Seite der herrschenden Klasse und befasste sich nicht mit Politik. Lediglich eine kleine Gruppe von Arbeiter- und Bauernpriestern, vornehmlich Jesuiten, unterstützten das Volk in seiner Befreiungsbewegung, setzte sich für Bildung und Alphabetisierung der Bauern ein und erschloss ihnen die revolutionäre Botschaft des Neuen Testaments. Die Elite beobachtete diese Basisbewegungen mit einigem Unmut und machte machte sich bei der Ernennung eines neuen Erzbischofs von San Salvador für Óscar Romero, einen konservativen, verkopften Theologen stark, der wenig für die aktuelle politische Situation übrig hatte. Anfang 1977 wurde Romero als Erzbischof von San Salvador eingeführt, zur Enttäuschung sämtlicher progressiven Kräfte des Landes. Romero war wenig beliebt und galt als Marionette der Macht. Dies sollte sich jedoch bald ändern. Es war wohl der kaltblütige Mord am Jesuitenpater Rutilio Grande im März 1977 durch die Militärs, der trotz seiner revolutionären Gesinnung der engste Freund und Vertraute Romeros gewesen war, der dem Erzbischof die Augen öffnete und zu einem radikalen Wandel seiner Gesinnung führte. Fortan brach Romero mit allen Tabus, stellte sich entschieden auf die Seite des Volkes und verurteilte öffentlich jegliche Form der Gewalt. Er besuchte die Bauerngemeinden in den entlegendsten Winkeln des Landes, um sich ein Bild von der Situation seines Volkes zu machen und klagte in seinen Sonntagspredigten, wortgewandt und poetisch die staatliche Repression an. Bald wurden Romeros Predigten in ganz Mittelamerika per Radio ausgestrahlt und der Erzbischof war weltweit bekannt. Von seinen einstigen Freunden im Bischofskollegium und dem Vatikan verlassen, sah er sich bald alleine einem grausamen Staatsapparat gegenüber, der mit perverser Gewalt, Folter, Vergewaltigungen, Massakern die eigene Bevölkerung zu Grunde richtete. Eine absurde Vorstellung, der kein Vergleich gerecht werden kann, und die, in die Gegenwart geholt, vielleicht am ehesten mit den Bildern der Gewalt in Libyen und Syrien assoziert werden kann. Wie auf der einen Seite die Anhänger im Volk, summierten sich auf der anderen Seite die Morddrohungen gegen Óscar Romero. Am 23.03.1980 hielt er seine letzte und bedeutendste Sonntagspredigt, in der er das Regime offen verurteilte und alle Soldaten zum Ungehorsam gegenüber demselben aufrief, indem er ihnen in aller Deutlichkeit bewusst machte, dass sie ihre eigenen Brüder und Schwestern töteten. Am Tag darauf wurde Óscar Arnulfo Romero während der Feier der Eucharistie von einem staatlichen Auftragskiller am Altar niedergeschossen.

Hymne an den Propheten von der salvadorianischen Musikgruppe "Yolocamba Ita" mit Ausschnitten aus dem Hollwood-Film "Romero" von 1989

Das salvadorianische Volk stand geschlossen hinter seinem gefallenen Bischof. Bis heute, 33. Jahre nach seinem Tod, wird Romero von allen ganz gleich ob katholisch, evangelisch-freikirchlich oder atheistisch als Heiliger und Held des Volkes verehrt. Sein Todestag wird gemeinhin als Beginn des zwölfjährigen Bürgerkrieges in El Salvador betrachtet. Sein Geist und seine Worte wirken bis heute weit über die Grenzen dieses kleinen Landes hinaus und gehören zum Fundament der lateinamerikanischen Emanzipations-und Befreiungsbewegung.
Jedes Jahr im März wird dem ewigen Erzbischof San Salvadors mit einem gigantischen Gedenkmarsch gehuldigt. Auf der Plaza de las Américas versammeln sich Gläubige, Visionäre, Kommunisten, Studenten, Arme, Ausgegrenzte, Alte, Junge um gemeinsam schweigend, singend, Parolen schreiend, lachend knapp zwei Stunden durch die Straßen der Hauptstadt bis vor die Kathedrale zu ziehen, wo auf dem Vorplatz die Gedenkmesse für Monseñor Romero gefeiert wird. In diesem Jahr hatte ich die Gelegenheit dieses Großereignis mitzuerleben. In meiner Erfahrung war es mehr als eine reine Gedenkveranstaltung, es war ein Marsch des Lebens und der Gerechtigkeit, der Ruf eines Volkes, das trotz Demokratisierung und Friedensprozess weiterhin im skandalösen Sklavendienst der herrschenden Klasse steht und täglich ausgebeutet, misshandelt und ermordert wird. Die Strukturen haben sich kaum verändert, nur die Feudalherren sind heute nicht mehr die nationalen Großgrundbesitzer auf ihren Haciendas, sondern die multinationalen Konzerne einer globalisierten, neoliberalen Marktwirtschaft in ihren gläsernen Wolkenkratzern. In der Messe vor der Kathedrale, in den Bitten der Gläubigen, in den Liedtexten der "Misa Popular Salvadoreña", der salvadorianischen Volksmesse, sind diese Zeugnisse aus der Vergangenheit, das Leid der Gegenwart  und die Besorgnis um eine lebenswürdige Zukunft nicht zu überhören. Damit erfüllt sich eines der berühmtesten Zitate Romeros: "Wenn sie mich umbringen, werde ich in meinem Volk auferstehen." Die Worte Romeros, die hier im einstimmigen Ruf des Volkes "Ya basta de sufrimiento para el Pueblo" (Schluss mit dem Leiden des Volkes) auferstehen scheinen auch künftig nicht zu verstummen und ihr Heiliger somit weiterzuleben.
Teil dieser aktiven, mitreißenden Bewegung sein zu dürfen, die kein Blatt vor den Mund nimmt und offen die Probleme und Missstände unserer Zeit anspricht ist eine beeindruckende Erfahrung und macht mir Mut, weiter dieses spannende Land und seine ausdauernden und hoffnungsvollen Menschen kennenzulernen. Eine Hoffnung die nicht stillsteht und fromm abwartet, sondern zupackt, unterwegs ist und verändert.

Plaza de la s Américas y del Divino Salvador del Mundo in San Salvador


Ein riesiges Transparent zeigt das Konterfei von "San" Romero de América


Weihbischof Gregorio Rosa Chávez begleitete den bunten Menschenzug durch die Straßen

Alle waren sie gekommen, um ihren Heiligen zu feiern
Ein ungewöhnliches Erlebnis - Pupusas Essen mitten auf der Asphaltfahrbahn auf dem gewöhnlich vom Verkehr verstopften Vorplatz der Kathedrale 
..."Un refresco de mango!", schallt es vom Bürgersteig herein. Der Ventilator dreht sich unverändert, geduldig eine sanfte Brise spendend, als die Señora aus der Küche des Restaurants herausschießt, um die Kundin zu bedienen. Ich reibe mir schläfrig die Augen. Der Morgen war anstrengend, ein weiterer Termin beim Bildungsministerium im Zentrum, Busfahren, halbrecherisch Straßen überqueren, warten, schwitzen. Eine herzhafte "torta mexicana" und ein Jamaica-Saft in der "Pescadería" bringen mich wieder zurück unter die Lebenden. Ich verabschiede mich, gönne mir eine kalte Dusche und mache mich fertig für die Uni. 17.00 Uhr ist Vorlesungsbeginn, zuvor muss ich noch zwei Kapitel Methodenlehre lesen. Man könnte fast den Verdacht erheben, eine gewisse Routine hätte eingesetzt, ein gutes Gefühl nach sovielen Unordnung.

Aus der alles anderem als langweiligen Routine ganz bald schon mehr. Mit herzlichen Grüßen aus San Salvador,
Benjamin :)

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