Freitag, 19. April 2013

Guatemala, ewiges Land der Maya (Teil 3)


"Tock, tock, tock..." Kräftig klopft es an die Zimmertüre. "Sie können jetzt aufstehen!", ich erkenne die freundliche Stimme von Juan wieder. Ich drehe mich um. Durch die schmalen Ritzen über der Tür fallen einzelne, verirrte Lichtstrahlen ins Zimmer. Draußen ist es schon hell. Ich winde mich unter den paar Lagen Wolldecken hervor, richte mich auf und trete ins Freie. Im Innenhof herrscht bereits reges Treiben. Die beiden Kleinsten jagen vergnügt die Küken im Kreis, zum Verdruss der Henne, und Andrés widmet sich am Waschtisch mit nacktem Oberkörper der Morgentoilette. Als ich selbst nach dem Wasser greife, gefriert mir fast das Blut in den Adern. Andrés lacht. Auch in der Küche hat das Tagesgeschäft bereits begonnen. Im Ofen prasselt bereits ein vielversprechendes Feuer. Isabel und Candelaria gehen Mutter Sandra zur Hand und lächeln mich schüchtern an als ich eintrete. "Saq' ariq! (Guten Morgen) Haben Sie gut geschlafen?" Das habe ich. Heute ist Gründonnerstag. Wie mir Andrés erklärt ist es an diesem Tag Brauch ein bestimmtes Brot zuzubereiten. Das pan panela ist ein rundes Maisbrot, das in warmen Zuckerrohrsirup getaucht und eingeweicht wird. Die panes werden dann jeweils auf einem Teller vom erstgeborenen der Familie an die Nachbarn, Freunde und Familienmitglieder verschenkt. Andrés bedeutet mir mitzukommen. Wir verlassen das Haus durch die Hintertür und treten auf einen schmalen Pfad. Der Himmel ist blau, keine Wolke weit und breit. Ich atme tief ein. Die frische, kühle Bergluft flutet meine Lungenflügel bis in den letzten Winkel. Ich bin wach. Obwohl es erst 7 Uhr ist, ist bereits recht viel Leben auf den Straßen. Eine ältere Frau fegt ihren Hauseingang, eine Horde Kinder läuft kichernd um die Wette, zwei junge Frauen balancieren elegant große Tongefäße auf ihren Köpfen. Das Sirupkännchen in der Hand folge ich Andrés um zwei Wegbiegungen, bis wir vor einem Haus stehenbleiben. "Hier wohnt mein Onkel mit seiner Familie.", erklärt er mir. Wir werden bereits erwartet und grüßen mit einem freundlichen „Uz nimaq ij“ (Frohes Fest). Wir übergeben das Brot und den Sirup an die Señora des Hauses und bekommen im Gegenzug ebenfalls einen Teller mit Brot. Außerdem bietet man uns eine Tasse heißen „atol de maza“, einen ungesüßten, dickflüssigen Maisbrei, an, der weniger ein Getränk als eine vollwertige Mahlzeit zu sein scheint. Wir bleiben ein Weilchen unterhalten uns und verabschieden uns bald wieder. Es geht zurück nach Hause, wo Mutter Sandra und die Mädchen bereits den nächsten Teller Brot vorbereitet haben. Weitere Häuser warten bereits. Das Haus der Großmutter, der Cousine, des Onkels. Überall wird das pan panela freudig ausgetauscht, das „uz nimaq ij“ euphorisch erwidert. 

Doña Sandra bereitet das pan panela zu


Mit Andrés unterwegs zu den Nachbarn


Auf den Wegen zwischen den einzelnen Stationen erzählt mir Andrés viel über das Dorf, das Leben hier und seine Familie. Früher sei die Luft hier in Chwikaqá sauber gewesen. Mittlerweile sei sie bereits verschmutzt, denn jeden Tag kommen hier auf der Straße Autos vorbei. Ich atme die für meine Verhältnisse reinste Bergluft ein und staune nicht schlecht. Die Natur und ihre Erhaltung haben hier eine existentielle Bedeutung für das Leben der Menschen. Jede Familie lebt von ihrem kleinen Stückchen Ackerland, auf dem sie Mais anbaut, die milpa. Bleibt der Regen zu lange aus, oder regnet es zu früh und zu viel geht die Ernte verloren mit fatalen Folgen für die Menschen. In den vergangen Jahren hat sich das Klima stark verändert, die Regen- und Trockenzeitperioden sind kaum noch vorhersagbar. Ein Phänomen, von dem mir Menschen in verschiedenen Teilen der Welt berichtet haben und das zumeist von der einfachen Landbevölkerung wahrgenommen wird, die unmittelbar vom Klima und seinen Launen abhängig ist. Was die Dorfgemeinschaften hier und anderswo erleben und erleiden kann keine Klimastatistik, kein Akademiker widerlegen und jeder Versuch erscheint angesichts der Realität zynisch. Hier zeigt sich bereits heute und ganz konkret das grausame Gesicht des globalen Klimawandels. Das gibt mir zu denken. Noch nehmen wir in den sicheren Konsumburgen des Nordens dies kaum war, doch die Tage des Erwachens werden kommen und dann wird es vielleicht schon zu spät sein.

La milpa kurz vor der Aussaat


Blick auf das Hochland des Quiché


Eigentlich seien die Menschen hier in Chwikaqá nicht arm, meint Andrés. In Santa María Chiquimula, dem Hauptort des Distrikts, sei dies anders. Es gebe eine Studie von Wissenschaftlern die besagt, dass Totonicapan das ärmste Departement Guatemalas sei und Santa María Chiquimula, eine Autostunde von Chwikaqá entfernt, die Kommune mit der größten Armutsrate in Totonicapan, weiß Andrés. Dort gibt es wenig Arbeit, die Menschen arbeiten auf dem Markt, in kleinen Werkstätten oder wandern in die Stadt ab, es gibt kaum Perspektiven. Hier in Chwikaqá hätten die Menschen noch ihre milpa (kleines Maisfeld) und seien unabhängig, versichert er nicht ohne Stolz in der Stimme. „Und selbst wenn jemand keinen eigenen Acker hat, kann er einen Nachbarn oder Freund um Arbeit auf seinem Feld bitten. Wir helfen uns hier gegenseitig. Wir sind eine große Familie“. Auch Banken gebe es hier nicht, fährt er fort. Seine Familie habe beispielsweise ein Schwein. Ein Ferkel ist hier sehr billig. Ganz nebenbei ziehe man das Schwein im Haus mit Essensresten groß bis man es schließlich verkaufe. „Eine ausgewachsene Sau bringt in etwa 1000 Quetzales [150€], das ist viel Geld!“ Das ‚Sparschwein‘, eine rentable Investition.
Wir erreichen das Haus einer jungen Frau, die uns mit ihrem etwa einjährigen Sohn freudig empfängt. Nach der fast zeremoniellen Übergabe des Brotes und einem kleinen ‚Schwätzle‘ (alemannisch für kurze Unterhaltung) kehren wir nach Hause zurück. Auf dem Weg erzählt mir Andrés, dass dies die Witwe seines Onkels war. „Vor etwa zwei Jahren waren mein Großvater gemeinsam mit dem damals 26 jährigen Onkel zum Arbeiten auf dem Dorffriedhof gewesen, als eine Gruppe von Männern sie überfiel und niederschoss. Großvater war sofort tot. Meinen Onkel brachten wir nach Santa Cruz ins Krankenhaus, doch auch er starb drei Tage später. Seine junge Frau war gerade schwanger mit ihrem ersten Kind.“ Ich bin sprachlos. Selbst vor dieser Abgeschiedenheit, in dieser fernen, schönen, vermeintlich friedlichen Welt macht die Gewalt nicht halt. Ich frage nach einem Warum. Andrés meint, es war vermutlich aus Neid oder Rache. Die Täter flohen nach der Tat, doch man weiß wer es war. Einer der Mörder lebt heute noch in der Gemeinde. Niemand unternahm etwas, keine Anzeige, keine Polizei. Es sei besser so, meint Andrés. Die staatliche Ordnungsgewalt genießt hier keinen guten Ruf und ist weit, weit weg. „Mein Großvater hat 76 Enkel und bis jetzt 24 Urenkel“, fährt er plötzlich heiterer fort. „Als mein Großvater noch lebte versammelten wir uns häufig zu Festen in seinem Haus und feierten manchmal drei Tage lang.“
Als wir schließlich das Haus der Familie wieder erreichen, treffen gerade auch Mariza, Estela und Agustín ein, die zum Frühstück eingeladen sind. Die Kinder haben ihre Schüchternheit verloren und freuen sich über so viel merkwürdigen Besuch am frühen Morgen. Doña Sandra serviert jedem von uns einen voll beladenen Teller pan panela und eine Tasse heißen atol. Ich kämpfe. Für mich ist es bereits das dritte Brot und die dritte Tasse des leckeren aber sehr nahrhaften Maisbreis. Agustín macht sich genüsslich über das vor Sirup triefende Brot her, bald schaut man am Tisch in glückliche und gesättigte Gesichter. Doña Sandra brät währenddessen Spiegeleier und rührt energisch in einem Topf auf der Feuerstelle. Agustín fragt sie interessiert: „Kochen Sie für das Mittagessen?“ Die Frau lacht herzhaft: „Nein! Das ist das Frühstück.“ Uns allen fällt die Kinnlade herunter. Frühstück? Ehe wir uns versehen hat jeder einen Teller mit Bohnen, Ei und Chili vor sich. „Das Brot war doch nur eine Zeremonie“, erklärt uns Juan lachend, „jetzt gibt’s Frühstück!“ Weitere 15 Minuten später kann ich mich kaum mehr bewegen. Ich lasse die letzte Tasse Maisbrei halbvoll stehen, es geht einfach nicht mehr. Halb lachend, halb weinend vor Bauschmerzen danken wir der Familie für die die Einladung und machen uns gemeinsam mit Juan und Andrés schwerfällig aber voll freudiger Erwartung auf den Weg in den Ortskern, wo heute einige Aktivitäten anstehen.



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