Mittwoch, 20. Februar 2013

Eine Universität für den sozialen Wandel

Die Tage fliegen nur so vorbei. Obwohl ich derzeit noch keinen recht strukturierten Tagesablauf habe bin ich stets beschäftigt und verbringe sehr viel Zeit damit durch die Straßen zu schlendern, das Viertel zu erkunden, zum Einkaufen ins Zentrum zu fahren, zu Essen, zuzuhören und vor allem zu Staunen über all das Neue das mir hier tagtäglich begegnet. Fernando gedeiht prächtig, wächst jeden Tag ein Stückchen und hält die ganze Familie auf Trab. Lorien verleiht ihrer Euphorie über die Geburt des jüngsten Sprösslings weiterhin lautstark Ausdruck, trommelt auf Marios Bauch ein und ruft vergnügt: "Ich will noch ein Brüderchen!". Norma hat ihr indessen erklärt, dass Babys in diesem Alter noch alles schwarz/weiß sehen. Lorien zog daraus den logischen Schluss, dass Fernando folglich sie selbst, ihre Mutter und mich weiß sehen musste und ihm sein Papa Mario, der aufgrund seiner etwas dunkleren Hauptfarbe von seinen Freunden liebevoll "el negro" (der Schwarze) genannt wird, komplett schwarz erscheinen musste. Die Freunde und anderen Familienmitglieder konnten sich kaum halten vor Lachen auf diese kuriose Entdeckung hin, von Lorien nur mit einem schelmischen Grinsen begleitet.
Vergangene Woche, meine zweite Woche in El Salvador, begann ich auch mit den verschiedenen praktischen und bürokratischen Notwendigkeiten, die im Zusammenhang mit meinem zweijährigen Aufenthalt hier eben so anfallen. Mein erster und lange erwarteter Gang führte mich zur Universidad Centroamericana "José Simeón Cañas", der UCA, meiner neuen Uni. Der Campus liegt am südwestlichen Rand San Salvadors und gehört streng genommen eigentlich gar nicht mehr zur Hauptstadt, sondern zum Municipio de Antiguo Cuscatlán in der Nachbarprovinz La Libertad. In der Praxis merkt man jedoch nicht, dass man San Salvador verlässt, da die wachsende Bevölkerung, aufgrund von Reimmigration nach dem Bürgerkrieg und Landflucht, die Stadt mehr und mehr mit dem Umland verschmelzen lässt. Betritt man schließlich das eingezäunte Unigelände, nachdem man sich am Portal beim Sicherheitspersonal ausgewiesen hat, ist es als tritt man in eine andere Welt ein. Eine sauber asphaltierte Straße gesäumt von Palmen, und blühenden Sträuchern schlängelt sich elegant den Hügel hinauf. Zwischen den Backsteingebäuden und flachen Hörsälen laden gemütliche Sitzgruppen auf dem Rasen zum verweilen ein, mit einem Ausblick auf die gepflegten Sportanlagen der Universität, wo hartgesottene Läufer in der Mittagssonne ihre Runden drehen. Neben der Sauberkeit ist das wahrscheinlich auffallendste Merkmal des Campus die nahezu paradiesische Stille, was gewiss nicht nur an der Tatsache liegt, dass gerade noch Semesterferien sind und viele Studierende noch nicht an die Uni zurückgekehrt sind. 



Haupteingang - Universidad Centroamericana "José Simeón Cañas"
Auf dem Campus
Die Sportanlagen
Das Centro Monseñor Romero - die theologische Fakultät

Die Uni Kapelle "Cristo Liberador"
Altarbild im Stil indigener Kunst

Die Bilder der stinkenden und lärmenden Buskarawanen und der laut feilschenden Menschenmassen die sich erbarmungslos über das Schachbrettmuster des Stadtzentrums schieben, wo ich noch eine halbe Stunde zuvor den Bus gewechselt habe, scheinen wie aus einem fernen Traum. Dieser Kontrast macht mir einmal mehr die Ungleichheit und die gewaltige Schere zwischen Arm und Reich bewusst, die symptomatisch für so viele Großstädte, gerade im Lateinamerika des 21. Jahrhunderts, ist. Die Luxusvillen mit Helikopterlandeplatz der Superreichen, die sich noch weiter oben an den Hügeln von Antiguo Cuscatlán aneinanderreihen kenne ich nur aus Erzählungen. Doch mir ist klar, auch das ist El Salvador. Diese immense Ungleichheit zu überwinden, die mit Quelle der immernoch erschreckend hohen Kriminalitätsraten und der Gewalt im Land ist, und neue Wege der sozialen Inklusion und öffentlichen Teilhabe zu gehen, sind die großen Herausforderungen dieser Zeit, um Demokratie, Frieden und gerechten Wohlstand nachhaltig zu sichern. Die UCA hat an diesen Prozessen keinen geringen Anteil, wenngleich die Universität 1965 auf das Drängen katholischer Familien der Oberschicht hin von den Jesuiten gegründet wurde, um ein Gegengewicht zur damals sozialistisch geprägten staatlichen Universidad de El Salvador zu bilden. Die Samen der Befreiungstheologie, einer in Lateinamerika entstandenen spezifischen Richtung der katholischen Theologie, die sich begleitet von einer umfassenden Gesellschaftskritik seit dem zweiten Vatikanischen Konzil auf dem gesamten Kontinent zur "Stimme der Armen" machte, um diese aus Rechtlosigkeit und Unterdrückung zu befreien und die Unrechtsstrukturen anzuklagen, fielen bei den Jesuiten von San Salvador auf fruchtbaren Boden. Mit einem starken Fokus auf eine fundierte und breit angelegte Grundausbildung ihrer Studenten und der akademischen Reflexion der nationalen sozio-politischen Realität gewann die Universität bald an Einfluss in der salvadorianischen Gesellschaft und ein internationales Renommé in den Feldern Soziologie, Sozialpsychologie, Sozialanthropologie, Philosophie und Theologie. In den 1970er und 80er Jahren war die UCA in der Hand der international geschätzten Jesuiten um Jon Sobrino, Ignacio Ellacuría, Ignacio Martín-Baró und Segundo Montes. Die UCA übte stets scharfe Kritik am staatlichen Repressionsapparat, unter dessen Verantwortung während des zwölfjährigen Bürgerkriegs hunderttausende Menschen gefoltert, verschleppt und ermordet worden waren. Ellacuría, Martín-Baró, Montes, drei weitere Jesuiten, eine Hausangestellte und deren Tochter bezahlten diesen mutigen Einsatz mit dem Leben, als sie im Morgengrauen des 16. November 1989 von einer Todesschwadron der Regierung brutalst hingerichtet wurden. Die Opfer des Attentats werden heute als Märtyrer verehrt, deren jedes Jahr am 16. November mit einem großen Fest gedacht wird, doch davon ein anderes mal mehr.
Dem Frieden, und der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet, setzten die Lehrer der UCA ihre Arbeit unbeirrt fort. Auch zwanzig Jahre nach Ende des Bürgerkriegs begleitet die Universität die Entwicklung der jungen Demokratie kritisch und trägt stolz den Beinamen "Universität für den sozialen Wandel". Das Institut für Menschenrechte der Uni (IDHUCA) ist weit über die Landesgrenzen für seine Analysen und Forschungsarbeiten bekannt. Der berühmte Befreiungstheologe Jon Sobrino lehrt bis heute an der theologischen Fakultät. Derzeit sind etwa 9000  Studierende an der UCA eingeschrieben in Fächern von Theologie und Philosophie über Jura, Informatik, Architektur und Ingenieurswissenschaften bis hin zu Mathematik und Wirtschaftswissenschaften. Die Universität gehört laut internationaler Rankings zu einer der besten höheren Lehranstalten in Zentralamerika.
Von diesem kritischen Geist, seiner bewegten Geschichte, der herausfordernden Gegenwart und seiner ungewissen Zukunft angerührt zu werden, ist mein Plan für die kommenden beiden Jahre.
Konkret werde ich dies einwerseits im Rahmen des neuen Master-Programms "Teología Latinoamericana" tun. Ein Programm das explizit auf lokale und lateinamerikanische Herausforderungen im Zusammenhang mit Religion, Gesellschaft und sozialer Gerechtigkeit eingeht, stets jedoch im Kontext einer globalisierten Welt. Ein wichtiges Element hierbei ist auch das Kennenlernen der lokalen Kultur und starken Volksreligiösität sowie das Studium der zahlreichen indigenen Religionen der hiesigen Völker, die lange vor der gewalttätigen Verbreitung des Christentums blühende Hochkulturen hervorgebracht hatten. Andererseits werde ich mit dem kritischen Geist des Wandels auch neben dem Studium, das ja noch gar nicht begonnen hat, tagtäglich umweht. Die Erinnerungen an den Krieg und den schleppenden Versöhnungsprozess sind auch in der jungen Bevölkerung noch sehr präsent. Politisches Denken und Handeln, ehrenamtliches Engagement und die Auseinandersetzung mit der eingenen Geschichte sind vielerorts spürbar und sichtbar. Ich bin froh hier sein zu können, bin gespannt was alles auf mich zu kommen wird und berichte gerne davon.

Mit vielen, sonnigen Grüßen aus San Salvaodor in die Welt und bis zum nächsten Mal!



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